Zwischen den großen Blockbuster-Titel, die die Massen in die Kinos locken, kommt es hin und wieder vor, dass die ein oder andere kleine Perle sang- und klanglos untergeht. Mit „Calibre – Weidmannsunheil“ (2018) ist nun ein Film exklusiv auf NETFLIX verfügbar, den ich zwar gerne im Kino gesehen hätte, der aber durch seine Streaming-Präsenz wahrscheinlich wesentlich mehr Zuschauer erreichen wird. Was das Thriller-Drama auszeichnet, erfahrt ihr in unserer Kritik!

Originaltitel: Calibre

Drehbuch & Regie: Matt Palmer

Darsteller: Martin McCann, Jack Lowden, Tony Curran…

Artikel von Christopher Feldmann

NETFLIX-Filme haben es nicht leicht. Wo der Streamingdienst mit seinen eigens produzierten Serien ein recht gutes Händchen hat, erleidet er mit seinen Filmen oft eine Bruchlandung. Zwischen zotigen Komödien, öden Dramen und der x-ten Adam Sandler-Produktion ist meistens nicht viel zu holen, es sei denn es wird exklusiv eingekauft. Nachdem Erfolgs-Coup mit Alex Garlands „Auslöschung“ (2018), holte sich NETFLIX nun den nächsten Geheimtipp, direkt vom Edinburgh International Film Festival, wo „Calibre – Weidmannsunheil“ seine Premiere feierte. Eine Wohltat, denn der britische Thriller von Matt Palmer ist intensives, spannendes und wunderbar fotografiertes Kino, welches schon jetzt große Chancen auf einen Platz in meiner Top-Liste des Jahres hat!

Marcus (Martin McCann) und Vaughn (Jack Lowden) sind beste Freunde. Zusammen fahren sie für ein Wochenende in die schottischen Highlands, um auf die Jagd zu gehen. Nachdem sie am ersten Abend Bekanntschaft mit der eigensinnigen Dorfgemeinde gemacht und gefeiert haben, wiederfährt ihnen am folgenden Tag Etwas, was ihr Leben für immer verändern wird. Als Vaughn ein Reh erlegen will, trifft er aus Versehen ein Kind tödlich. Sie beschließen den Vorfall zu vertuschen, was sich nach und nach zum Alptraum entwickelt.

Es sind doch immer wieder die „kleinen“ Filme, die noch zu überraschen vermögen. „Calibre“ ist ein meisterliches Beispiel für ein mitreißendes Stück Film, welches anno 2018 immer seltener wird. Dabei erzählt der, als bester britischer Film ausgezeichnete, Thriller nichts Neues, sondern liefert uns eine geerdete Geschichte, die von Anfang an nachvollziehbar erzählt wird. Dass zwei Freunde für ein Wochenende in eine, mehr oder weniger, einsame Gegend fahren, bietet gefühlt jeder dritte Horrorfilm als Prämisse an. Im Falle von „Calibre“ entwickelt sie sich aber auf spannende Art und Weise. Nach dem tödlichen Unfall stellen sich die Charaktere die berechtigte Frage, was man jetzt tun solle. In einer Mischung aus Panik und rationalem Denken treffen beide die moralisch falsche Entscheidung und trotzdem fiebert der Zuschauer bis zum Ende mit, obwohl er weiß, dass es nicht richtig ist. Der Film hält ihm den Spiegel vor und man beginnt sich selbst zu fragen, was man wohl in so einer Situation tun würde. Auf einmal kann man Marcus und Vaughn nachvollziehen. Die Frage nach Moral ist der rote Leitfaden des Films und bejaht sie auch im Endeffekt. Hier spielt man gekonnt mit den Erwartungen. Natürlich kann man sich denken, dass die Beiden nicht heil und unbehelligt davon kommen, jedoch erscheint die Endlösung überraschend. Somit ist das Pacing die große Stärke des Films. „Calibre“ ist weder zu lang, noch zu kurz und weißt keine unnötigen Scharmützel auf, sondern zieht die Spannungsschraube bis zum Ende immer weiter an, um sie schlussendlich zu entladen. Zudem sind die Dialoge menschlich und wirken nicht gekünstelt, was erheblich zum realistischen Ton passt. Der Film hat mich wirklich mitgerissen und ich klebte die komplette Laufzeit quasi am Fernseher, was mir sehr selten passiert und für die hohe Qualität von „Calibre“ spricht.

Die beiden Hauptcharaktere präsentieren zwar keine neuen menschlichen Züge und sind recht schlicht gehalten, was ihre Persönlichkeiten und Motivationen angeht, funktionieren aber erstaunlich gut. Matt Palmer holt aus diesen klassischen Tropen das Maximum heraus und inszeniert die Beiden als gute Freunde, die aber eine andere Auffassung von Moral haben. Dies gibt dem Film noch weiter Dynamik und sorgt für Spannung. Auch über die beiden Figuren hinaus zeichnet der Thriller ein interessantes, sowie kritisches Portrait einer zerfallenden Gesellschaft. Hauptsächlich ist ein kleines schottisches Dorf der zentrale Handlungsschauplatz. Die beiden Jungs aus der Stadt geraten schnell in den Fokus der Dorfbewohner, ohne dass diese als die unheimlichen Hinterwäldler gezeichnet werden. Die Menschen des Dorfes unterscheiden sich von Marcus und Vaughn, da sie ein anderes Leben gewohnt sind, andere Werte haben und für ihre Infrastruktur selbst arbeiten müssen, was nur funktioniert, wenn auch die Gemeinschaft in Takt ist. Logan, der großartig von Tony Curran gespielt wird, ist dabei die wohl interessanteste Figur. Als angesehener Dorfbewohner hat er Verständnis für Marcus und Vaughn, die sich in diesen Strukturen zurecht finden müssen. Er verteidigt sie öfters und hält seine Freunde im Zaum, die deutlich rabiater sind und in den beiden Touristen Das sehen, was ihr Leben in Mitleidenschaft gezogen hat, nämlich der Kapitalismus. Logan hat auch die wohl größte emotionale Fallhöhe der Beteiligten und seine Entwicklung gehört zum spannendsten Element des Films.

Man merkt, „Calibre“ ist dramaturgisch ein echter Triumph, und auch inszenatorisch kann die Produktion punkten. Regisseur Matt Palmer hat die Zügel fest in der Hand und würzt die emotionale Entwicklung geschickt mit den passenden Bildern. Immer mehr halten dunkle Szenen und Nachtaufnahmen Einzug in den Film und erzeugen eine düstere Atmosphäre. Trotzdem verfällt der Regisseur nie dem Selbstzweck, sondern bleibt geerdet. Dazu gesellen sich noch großartige Aufnahmen der schottischen Highlands, die mich schon haben wehmütig werden lassen, denn diesen Film hätte ich gerne im Kino gesehen. Dennoch ist es schön, dass sich NETFLIX der Produktion direkt angenommen hat. „Calibre“ steht auf der Streamingplattform zur Verfügung, allerdings ohne deutschen Ton. Zuschauer müssen sich mit der Originalversion zufrieden geben, der aber optional deutsche Untertitel zugeschaltet werden können.

Fazit:

„Calibre – Weidmannsunheil“ (2018), ein irgendwie dämlicher Zusatztitel, der an schlechte Backwood-Schocker erinnert, ist schlicht ein toller Film. Spannend, emotional, mitreißend und aufwühlend in seiner Gesamtheit. Endlich mal wieder ein großartiges Stück Kino, das in seinem Vibe an Klassiker wie „Beim Sterben ist jeder Erste“ (1972) erinnert. Ein absoluter Tipp für alle, die mal eine Pause von den großen Blockbustern brauchen.

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