Alejandro Jodorowski steht für viele Dinge, am wenigsten wohl für besonders leichte Kost. Auch SANTA SANGRE (1989) ist ein Film, den man nicht einfach so weggucken kann, sondern ein surreales, symbolisches Kunstwerk für Filmliebhaber. Genau für diese Liebhaber veröffentlicht KOCH FILMS den Film nun in einer aufwendigen Special-Edition. Grund genug, um sich dieses Werk einmal genauer anzusehen.
Originaltitel: Santa Sangre
Drehbuch: Alejandro Jodorowsky, Roberto Leoni, Claudio Argento
Regie: Alejandro Jodorowsky
Darsteller: Axel Jodorowsky, Blanca Guerra, Guy Stockwell, Adan Jodorowsky, Sabrina Dennison, Thelma Tixou…
Artikel von Christopher Feldmann
Der, in Chile geborene, Regisseur Alejandro Jodorowsky ist ein wahrer Tausendsassa. Neben dem Inszenieren von Spielfilmen, betätigt sich der Sohn einer jüdischen, aus der Ukraine stammenden, Familie ebenso als Schauspieler, Produzent und Autor von Drehbüchern, Comics und Büchern im künstlerisch-therapeutischen Bereich. Er legt sogar ganz gerne Tarot-Karten und hat die „Psychomagie“ entwickelt. Ja, der gute Herr Jodorowksy hat viele Eisen im Feuer, von denen das Dasein als Regisseur schon fast das Kleinste darstellt. Wirklich viele Arbeiten hat er gar nicht abgeliefert, was vor Allem daran liegen könnte, dass seine Filme alles andere als Mainstream sind. Seine Werke sind eher von Surrealismus und Esoterik geprägt und genießen unter Filmkennern und Kunstliebhabern einen sehr guten Ruf, wie sein erster großer Wurf EL TOPO (1970), ein surrealer, mit religiösen Motiven angereicherter Western, der mit der Zeit zum Klassiker avancierte. Jedoch schien die Karriere des Ausnahmetalents nach wenigen Jahren wieder beendet, als Jodorowsky den Roman DUNE (DER WÜSTENPLANET) verfilmen sollte, sich aber mit den Produzenten und Geldgebern verkrachte, weil niemand einen Film mit einer Länge von zehn Stunden sehen wollte. Sei’s drum, mit SANTA SANGRE (1989) legte er nach langer Schaffenspause ein fulminantes Comeback hin, welches seinem Ruf durchaus gerecht wird, denn auch dieser Film lässt sich nicht vollends in das Genre des Horrorfilms pressen, sondern präsentiert sich als ambitioniertes Werk voller Symbolik und psychologischen Themen.
Handlung:
Der junge Fenix (Adan Jodorowsky; später Axel Jodorowsky) wächst in einem kleinen Zirkus in Mexiko auf und leidet unter den Persönlichkeiten seiner Eltern. Denn während Vater Orgo (Guy Stockwell), ein grobschlächtiger Messerwerfer, Frauen mit Hypnose gefügig macht und Fenix zu einem richtigen Mann erziehen will, betätigt sich Mutter Concha (Blanca Guerra), eine Trapezkünstlerin, als Hohepriesterin einer fanatischen Glaubensgemeinschaft. Einzig die taubstumme Alma (Sabrina Dennison) bringt etwas Freude in Fenix‘ Leben. Aber auch sie kann die blutige Tragödie nicht verhindern, die sein Leben nicht nur verändern, sondern auch seinen Geist für immer aus dem Gleichgewicht bringen wird.
Man könnte SANTA SANGRE (1989) weniger als Film, sondern mehr als Erfahrung bezeichnen, denn klassische filmische Regeln scheinen bei Jodorowsky nicht zu gelten. Stattdessen eröffnet der Visionär eine absurd anmutende Halbwelt, die den Zuschauer mit einer Menge verschiedener Bilder beinahe erschlägt. Schon zu Beginn pendelt der Film zwischen mexikanischem Karneval, Freakshow und christlicher Erlösungs-Mythologie. Eine bizarre Umgebung, in der sich der kleine Fenix zurecht finden muss. Jodorowsky zeichnet ein bedrückendes Bild von einem Jungen, der sowohl Mutter als auch Vater verliert, beides vorweg mit der Zerstörung einer Kirche und dem Begräbnis eines Elefanten symbolisiert, später mit viel Kunstblut drastisch dargestellt.
Diese Themen werden vordergründig in der ersten halben Stunde behandelt, denn SANTA SANGRE ist weder ein richtiger Horrorfilm, noch ein reinrassiger Psychothriller, sondern etwas ganz Eigenes, dass gerne mit anderen Genres kokettiert. Wenn man Alles herunter bricht, bekommt man quasi ein Portrait eines Serienkillers, also das, was oberflächlich erzählt wird. Denn nach dem Prolog begleiten wir den erwachsenen Fenix, nun von Axel Jodorowsky verkörpert, der ein Dasein in der Nervenheilanstalt fristet und eine Frau trifft, die sein altes Trauma wieder heraufbeschwört. Das Ganze ergibt sich in einen Mix aus Psychogramm, Giallo, Traumdeutung, Ödipus-Aufarbeitung und Erlösung, verpackt in zwei Stunden zwischen Wahn und Wirklichkeit. Das Drehbuch setzt bewusst auf theaterhafte Überhöhung und absurd wirkende Dialoge und Figuren, wie eine Crossdress-Wrestlerin. Das Skript ist mehr eine Verdeutlichung des verwirrten Geistes unseres Protagonisten. Ein ziemlich guter Kniff, der den Zuschauer aktiv in das Geschehen hineinzieht und die Seherfahrung weiter intensiviert.
Ebenso ausgefallen wie die bizarr anmutende Dramaturgie, wirkt auch die, mit surrealistischen und sexuellen Bildern aufgeladene, Inszenierung, die eine Flut an Impressionen auf den Zuschauer einprasseln lässt. Von der Zirkuswelt, mit ihren Attraktionen und Kunststücken zwischen Clowns und Kleinwüchsigen, über religiöse Traumbilder, bis hin zu eruptiven Splatter-Szenen, in denen das Blut nur so spritzt. Ja, in einer Szene, steigen sogar die Leichen aus den Gräbern. Es gibt abstruse Theater-Momente, eine Referenz an den Horrorklassiker DER UNSICHTBARE (1933). Vielleicht macht Jodorowsky einen Fehler, indem er zum Ende zu viele Geschehnisse auflöst, anstatt die Fantasie des Zuschauers weiter anzutreiben. Auch stören abrupte Szenen- und Stimmungswechsel etwas den Sehgenuss. Ganz hervorragend wirken die Szenen, in denen Jodorowsky fast schon den italienischen Giallo zitiert. In der Mitte des Films gibt es eine Mord-Szene, die mit ihrer fantasievollen Beleuchtung und ihrem hohen Blutzoll an Dario Argentos SUSPIRIA (1977) erinnert. Dieser Vergleich ist sogar relativ offensichtlich, fungierte Darios kleiner Bruder Claudio Argento als Co-Autor und Produzent des Films. Dieser wollte eigentlich einen einfachen Film haben, in dem ein Mann viele Frauen tötet, wahrscheinlich so etwas wie MANIAC (1980) (ich merke gerade, dass wirklich viele Parallelen existieren). Man kann behaupten, dass Argento seinen Willen bekommen hat, nur eben als Film, der zwar Anleihen am Slasher nimmt, jedoch etwas komplett Eigenes darstellt, dass sich kaum katalogisieren lässt. Großartig sind auch die Schauspielleistungen der Darsteller, die den intensiven Wahnsinn und die tiefe Tragik hervorragend transportieren.
KOCH FILMS bringt diesen Klassiker des avantgardistischen Kinos nun in einer neuen Edition auf den Markt, die sich, wie auch der Film, an die Liebhaber richtet. Jodorowsky-Fans kommen bei dieser, fünf Discs umfassenden, Special-Edition voll auf ihre Kosten, denn die Bild- und Tonqualität ist, wie von KOCH gewohnt, überragend gut. Uns lag die DVD-Version vor, welche selbstverständlich auch an Bord ist, zur Sichtung vor und diese kann schon mit einem ziemlich guten Bild punkten, was die hohe Qualität der blauen Scheibe nur erahnen lässt. Neben dem Hauptfilm erwartet den Fan eine Fülle an Bonusmaterial, welches unter anderem aus einem Booklet, einer Dokumentation, mehreren Featurettes, einem Q&A mit dem Regisseur, sowie einem Filmgespräch zwischen Jodorowsky und Nicolas Winding Refn besteht. Dazu gibt es noch übliche Extras wie Bildergalerien mit seltenem Material und verschiedenen Trailern, das Sahnehäubchen ist allerdings der prägnante Soundtrack auf CD. Das sollten wahrlich genug Kaufargumente sein, denn wer KOCH FILMS kennt, weiß, dass der Name für Qualität steht.
Fazit:
Alejandro Jodorowskys SANTA SANGRE (1989) ist experimentelles Kunst-Kino der besten Sorte und serviert dem Zuschauer einen Sog aus bizarren Ideen, beeindruckender Symbolik, eruptiver Gewalt und tollen Darstellern. Eine ziemlich intensive Erfahrung, die man sich jetzt als Special-Edition in die Sammlung stellen kann. SANTA SANGRE ist, wie die restliche Jodorowsky-Vita, nichts für die Masse, für Filmliebhaber aber auf jeden Fall empfehlenswert!
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