Unter all den hochgelobten Filmen des letzten Jahres stach besonders TITANE (2021) hervor. Der zweite Langfilm von Regisseurin und Autorin Julia Ducournau sorgte zwar für Kontroversen, bekam letztendlich aber gute Presse und viel Lob von Genre-Fans, die das durchaus deftige Werk zu den großen Highlights der vergangenen Saison zählten. Nicht umsonst wurde das Werk mit der „Goldenen Palme“ bei den Filmfestspielen in Cannes ausgezeichnet. Interessierte müssen nicht mehr lange warten, denn schon bald erscheint der Film über Koch Films hierzulande im Heimkino. Wir durften bereits vorab einen Blick wagen.

Originaltitel: Titane

Drehbuch & Regie: Julia Ducournau

Darsteller: Agathe Rousselle, Vincent Lindon, Garance Marillier, Mara Cissé, Lais Salameh…

Artikel von Christopher Feldmann

Ich bin nicht allzu bewandert, was das französische Arthouse-Kino angeht aber fast jedes Jahr erscheint mindestens ein Film auf dem Radar, der mein Interesse weckt. Alle paar Jahre kommt sogar einer daher, der die Grenzen ein wenig aufsprengt und sogar aus dem wohligen Refugium der anerkannten Filmkritiker und Cannes-Gänger hinüber in die Genre-Gefilde schwappt. Wo früher ein Gaspar Noé zu schocken wusste und radikales Kunstkino ablieferte, scheint jetzt eine Frau ihre Zelte aufzuschlagen. Bereits mit RAW (2016) bewies Julia Ducournau ihr Fingerspitzengefühl für entrückte, radikale Stoffe und zeigte den Werdegang einer Vegetarierin, die die Fleischeslust überkommt, was immer extremere Formen annimmt. Ähnlich extrem geht sie bei TITANE (2021) zu Werke, der mit seiner poppigen Ästhetik, seinen Bildern und Gewaltausbrüchen kein Film für Jedermann ist aber zwischen den Zeilen interessante Themen anspricht und sogar zu Tränen rührt.

Handlung:

Als kleines Mädchen erhält die von ihrem Vater ungeliebte Alexia (Agathe Rousselle) nach einem mitverschuldeten Autounfall eine Titanplatte in den Schädel implantiert. Kurz darauf wird ihre körperliche Zuneigung zu Fahrzeugen geweckt. Jahrzehnte später im Erwachsenenalter arbeitet Alexia als erotische Tänzerin bei Auto-Shows, räkelt sich auf Motorhauben und hat sogar Sex mit einem Cadillac. Doch die neurologischen Folgen ihres Unfalls haben noch andere Triebe geweckt, denn Alexia hat auch schon einige, vorzugsweise männliche, Opfer auf dem Gewissen. Als sie eines Tages untertauchen muss schlüpft sie in die Rolle des seit zehn Jahren vermissten Sohnes eines Feuerwehrkommandanten (Vincent Lindon). Von Trauer und Einsamkeit zerfressen, nimmt er „Adrien“ bei sich auf. Für Alexia, deren Schwangerschaft immer weiter voranschreitet, wird es zunehmend schwerer den Schein zu wahren.

Wie schon RAW ist auch TITANE kein Film für die breite Masse, sondern für Filmliebhaber, die auch mal abseits des Hollywood-Einerleis stöbern. Und trotzdem sollte man vorab wissen, dass sich Julia Ducournaus Drama mit Anleihen an klassischen Body-Horror bewusst gängigen Konventionen entzieht. Zu Beginn wähnt man sich noch in einer in stylische Bilder getauchten Millieustudie, wenn Alexia sich im knappen Outfit auf aufgemotzten Boliden räkelt, während die notgeilen Männer sie lüstern begaffen. Dass mit der introvertierten Einzelgängerin nicht gut Kirschen essen ist, muss ein etwas zu aufdringlicher Fan am eigenen Leib spüren, bekommt er doch prompt eine Haarnadel ins Ohr gerammt, so dass ihm die Hirnmasse aus dem Mund suppt. Auch in den folgenden Szenen lässt Ducournau die Gewalt eskalieren, mordet sich die Protagonistin doch zu feinem italienischen Schlager durch ein Haus und zündet im Schlaf sogar die eigenen Eltern an. Dazwischen gibt es noch Bondage-Sex mit einem glänzenden, schicken Cadillac, der, wie sollte es auch anders sein, zur Schwangerschaft führt.

Wer sich jetzt denkt „What the Fuck?“, hat absolut recht, denn TITANE ist ziemlich abgefahren und provoziert bewusst die eigenen Sehgewohnheiten, auch wenn es im Kern um hochaktuelle Themen geht. Mit deutlich feministischem Anstrich nimmt uns der Film mit in die Identitätssuche einer geschundenen Seele, die nie die Liebe erfahren hat, die sie eigentlich gebraucht hätte und unfreiwillig eine Heimat findet, in der Vincent so etwas wie einen Vaterersatz darstellt, der selbst sein Päckchen zu tragen hat, das kurz davor ist, ihn in die Knie zu zwingen. Das Wechselspiel zwischen den beiden Figuren sorgt für eine ganz besondere Dynamik, denn ob Vincent nun weiß, dass es sich bei Alexia nicht um seinen vermissten Sohn handelt oder eben nicht, spielt gar keine große Rolle, schlussendlich geht es um das Zwischenmenschliche. Aber auch die eigene Identität und das Geschlecht sind hier allgegenwertig. Ducournau greift die allgemeine Überzeugung auf, dass sich die eigene Identität durch das Geschlecht definiert auf und inszeniert dies als Body-Horror. Denn wenn Alexia versucht, in der männlichen Rolle zu funktionieren aber ihr eigener Körper ihr immer wieder zusetzt, weil der Bauch immer dicker und dicker wird, dann ist das durchaus als Kritik an den eingefahrenen gesellschaftlichen Strukturen und Werten zu deuten.

Nicht umsonst spielt mit Agathe Rousselle eine nichtbinäre Schauspielerin die Hauptrolle, Alles andere würde dem Ganzen auch die Authentizität nehmen. Rousselle, die hier ihr Filmdebüt gibt und ansonsten als Autorin, Journalistin und auch Model tätig ist, dürfte die große Entdeckung des letzten Jahres sein, spielt sie doch mit einer unvergleichlichen Intensität. Gerade in der zweiten Hälfte, wenn sie sich Bauch und Brüste abbinden muss, um weiter als Adrien auf der Feuerwache ihres „Vaters“ aufzutreten, wirft sie sich mit einer derartigen Verve in das Geschehen, dass es absolut fesselnd ist. Gleiches gilt übrigens auch für Vincent Lindon, der perfekt als Gegenpart aber auch irgendwie Seelenverwandter funktioniert und mit ebenso viel Hingabe spielt.

Tatsächlich bezieht TITANE seinen Reiz über die originelle Handlung und das intensive Schauspiel. Inszenatorisch fährt Julia Ducournau eher die konventionelle Schiene, auch wenn die grellen Bilder zu Beginn in Verbindung mit dem Synthesizer-Sound durchaus schick sind. Im Verlauf des Films wird ihr Stil immer rauer, weit weniger glanzvoll und zunehmend wilder. Spätestens wenn Feuerwehrmänner zu 180 BPM schnellen Frenchcore durch die Fahrzeughalle raven und Alexia sich an den Löschfahrzeugen labt, ist das Ganze völlig vom Sinnen und endet auf einer berührend tragischen aber auch ziemlich weirden Note. Man muss schon diese Sorte Film mögen, um bei TITANE auf seine Kosten zu kommen, stellt das Ganze doch schon fast die Next-Level-Version von David Cronenbergs CRASH (1996) dar. Nichts desto trotz sollte man einen Blick riskieren, denn auch wenn der Film durchaus etwas sperrig und unbequem ist, solche Werke schaffen es selten in die allgemeine Wahrnehmung.

Koch Films lässt sich natürlich nicht lumpen und spendiert dem Cannes-Gewinner eine schicke Steelbook-Veröffentlichung, die neben der Blu-ray auch den Soundtrack auf CD beinhaltet. Bild- und Tonqualität sind erste Sahne, im Bonusmaterial finden sich Interviews mit der Regisseurin und der Hauptdarstellerin, sowie der Trailer. Wer die etwas teurere Variante nicht braucht, kann auch zu den günstigeren Amaray-Versionen, wahlweise DVD oder Blu-ray, greifen.

Fazit:

TITANE (2021) ist kein Film für den 08/15-Zuschauer, sondern künstlerisch ambitioniertes, radikal unbequemes und provokatives Arthouse-Kino, dass neben wilden Ideen auch diskussionswürdige Themen aufgreift. Etwas sperrig aber hochinteressant und mit einer ganz eigenen Sogwirkung. Definitiv einen Blick wert, nicht nur für Fans von Autosex!

Christophers Filmtagebuch bei Letterboxd – Your Life in Film

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