Auf den kürzlich über die Bühne gegangenen Fantasy Filmfest Nights schaffte es ein russischer Film, das Publikum in gute Stimmung zu versetzen, obwohl die weltweite Bevölkerung gerade wenig Gutes über Mütterchen Russland zu sagen hat. Doch Kunst sollte nicht mit einem durchgeknallten Kriegsherren über einen Kamm gescherrt werden, schon gar nicht, wenn es sich über den neuen Film von Kirill Sokolov handelt, der einmal mehr schwarzhumorigen und blutigen Spaß präsentiert, ohne dabei aber das Herz zu vergessen. NO LOOKING BACK – OHNE RÜCKSICHT AUF VERLUSTE (2021) erscheint demnächst über Pierrot Le Fou als Mediabook-Edition im Heimkino. Ob sich der Kauf lohnt, erfahrt ihr in unserer Kritik.
Originaltitel: Otorvi i vybros
Drehbuch & Regie: Kirill Sokolov
Darsteller: Viktoriya Korotkova, Sofya Krugova, Aleksandr Yatsenko, Anna Mikhalkova, Olga Lapshina, Igor Grabuzov…
Artikel von Christopher Feldmann
Russland erfährt momentan keine gute Presse, um es mal milde auszudrücken. Was Regierungschef Vladimir Putin treibt, ist schlichtweg ein Verbrechen an der Menschheit, insbesondere natürlich am Volk der Ukraine. Und egal, welche Wannabe-Schlaumeier nun Gründe äußern, um eine Art von Verständnis für diesen kriegerischen Schritt zu erzeugen, sie sollen sich allesamt ins Knie ficken. Denn egal warum und wieso, wer heutzutage in ein anderes Land einmarschiert, hat sein Recht auf Akzeptanz oder gar Verständnis verwirkt. Darunter leiden natürlich auch ganz viele Russe, die damit im Endeffekt nichts zu tun haben. Auch Regisseur und Autor Kirill Sokolov, der zuletzt mit dem blutigen Kammerspiel WHY YOU DON’T JUST DIE! (2018) zu unterhalten wusste, hatte zunehmend mit der aktuellen und unschönen Situation zu kämpfen, da diverse internationale Filmfestivals seinen neuesten Streich NO LOOKING BACK – OHNE RÜCKSICHT AUF VERLUSTE (2021) boykottieren, weil er eben russischer Herkunft ist und teilweise mit Fördergeldern finanziert wurde. Dabei hat sich Sokolov, der selbst ukrainischer Herkunft ist, offen gegen den die Kriegstreiberei Putins ausgesprochen. Das ist sehr schade aber wenigstens ist auf Deutschland verlass, denn die Fantasy Filmfest Nights zeigten das überspitzte Roadmovie trotz Bedenken auf der großen Leinwand. Das ist auch gut so, denn Sokolovs neuester Film ist wieder ein herrlich spaßiger Genrefilm geworden, der trotz dramaturgischer Hänger zu unterhalten weiß.
Handlung:
Nach vier Jahren Gefängnis ist Olga (Viktoriya Korotkova) fest entschlossen, neu anzufangen – doch zuallererst will sie ihre zehnjährige Tochter (Sofya Krugova) zurückbekommen. Olgas temperamentvolle Mutter (Anna Mikhalkova) hingegen glaubt es besser zu wissen und will ihre Enkelin nicht kampflos gehen lassen. Schnell gerät der Familienkonflikt außer Kontrolle und artet in einer blutrünstigen Verfolgungsjagd aus, bei der alle Beteiligten bereit sind über Leichen zu gehen, um an ihr Ziel zu gelangen.
Kirill Sokolov scheint eine Art Faible für dysfunktionale Familien zu haben, denn schon im Vorgängerwerk WHY YOU DON’T JUST DIE! ließ der, in Russland lebende, Filmemacher einen Konflikt zwischen einem Vater, dessen Tochter und deren Liebhaber ereignisreich eskalieren. Beschränkte er sich bei diesem noch auf begrenzte Räumlichkeiten und inszenierte den blutigen Schlagabtausch als ein lediglich in einer kleinen Wohnung angesiedeltes Kammerspiel, zog es Sokolov für seinen nächsten Film hinaus in die Natur, und zwar mitten in die russische Pampa, wo die Wälder dicht und die Straßen endlos scheinen. Und wieder steht ein Familienkonflikt im Mittelpunkt, der vollkommen außer Kontrolle gerät.
Dieses Mal sind es gleich drei Generationen von Frauen, die sich im Zentrum der Handlung bewegen und alle drei Damen scheinen sich zumindest in Puncto Temperament nicht allzu sehr voneinander zu unterscheinen. Dies lässt sich schon am Anfang erahnen, wenn die 10-jährige Mascha beginnt wie ein Rohrspatz zu fluchen. Eine Angewohnheit, die sie wohl von ihrer Mutter geerbt hat, die gerade aus dem Gefängnis entlassen wurde, nachdem sie für das herausgerissene Auge ihres Liebhabers vier Jahre schmoren musste. Die Dritte im Bunde ist wiederum ihre eigene Mutter, die ebenso Probleme hat, ihre Aggressionen im Zaum zu halten. Aus der klassischen Prämisse über eine Mutter, die versucht, gemeinsam mit ihrem entfremdeten Kind ein neues Leben zu beginnen, entspinnt sich eine waghalsige und völlig wilde Verfolgungsjagd, die im Wesentlichen von ihren völlig überdrehten Figuren lebt, die man nach US-Standards unter dem Begriff „White Trash“ verorten würde.
Zwar legt auch dieser Film wieder viel Wert auf überdrehte Momente, reichlich schwarzen Humor und Momente die haarscharf am Slapstick kratzen, im Herzen geht es aber auch um Familie und besonders die damit einhergehenden Beziehungen. Denn auch wenn der Haussegen mal schiefhängen sollte, am Ende des Tages gehört man doch irgendwie zusammen, auch wenn man es manchmal nicht wahr haben möchte. Dies wird besonders in der auf den ersten Blick gar nicht so sinnig wirkenden Nebenhandlung um eine Gefängniswärterin und deren Sohn klar, denn trotz unsympathischem Auftreten zu Beginn, offenbart sich auch bei diesen beiden Figuren ein liebevoller Umgang hinter der eisernen Fassade.
Genrefans müssen trotz herzlicher Momente natürlich nicht auf rasanten Spaß verzichten, denn Kirill Sokolov bleibt auch im Fall von NO LOOKING BACK seiner Handschrift treu und inszeniert das Familienduell als, von blutigen Spitzen und Schimpfwort-Salven durchzogenes, Roadmovie, das auch gerne mal die Grenzen hin zur Absurdität sprengt, etwa wenn ab einem gewissen Punkt sogar Schusswaffen zum Einsatz kommen. Zwar hat das Ganze in der Mitte einen kleinen Durchhänger und tritt für eine Weile etwas auf der Stelle, das Finale macht dies aber fast wieder wett und endet auf einer wunderbaren Schlusspointe. Und auch wenn der Film, trotz seiner Charakteristik etwas weniger Tempo zu bieten hat, als Sokolovs räumlich reduzierter Vorgängerfilm, macht das bonbonbunte Treiben in der russischen Pampa viel Freude.
Das liegt auch zu großen Teilen an der fantastischen Besetzung. Hat man als Zuschauer schon großen Spaß daran, den beiden erwachsenen Damen, Viktoriya Korotkova und Anna Mikhalkova, dabei zuzusehen, wie sich sich bekriegen, stiehlt Jungschauspielerin Sofya Krugova allen Beteiligten die Show. Die Kleine macht als trotziges und fluchendes Kind einen richtig guten Job und bekommt mitunter die besten Momente spendiert. Ebenfalls unterhaltsam, wenn schon fast als Comic-Relief angelegt, ist Aleksandr Yatsenko als Oleg, der mit Augenklappe und Sinn für Tollpatschigkeit die Lacher auf seiner Seite hat.
Hierzulande hat sich Pierrot le Fou die Rechte an NO LOOKING BACK gesichert und werten diesen, wie schon WHY YOU DON’T JUST DIE!, in einer Mediabook-Edition aus. Neben dem Hauptfilm enthält die VÖ noch ein Behind-the-Scenes-Featurette, Trailer, ein Poster, eine Videoeinführung durch den Regisseur und ein 24-seitiges Booklet, welches auch ein Interview mit Sokolov persönlich enthält. Uns lag zur Sichtung ein Screener vor, weswegen wir die finale Qualität der Blu-ray nicht bewerten können.
Fazit:
Trotz der gegenwärtigen Situation sollte man der russischen Filmkunst keine Abfuhr erteilen, immerhin entstehen auch dort gute Filme wie NO LOOKING BACK – OHNE RÜCKSICHT AUF VERLUSTE (2021) bestens beweist. Wer ein Faible für überspitzte, blutige und vor allem spaßige Genreware hat, sollte hier zugreifen und den Regisseur auf jeden Fall vormerken.
Amazon-Links:
Christophers Filmtagebuch bei Letterboxd – Your Life in Film