Immer wieder gibt es die These, dass gute Kurzfilme an Wucht verlieren, sobald man sie auf Spielfilmlänge streckt, da die Langversionen oftmals das Problem haben, keinen erzählerischen Mehrwert zu präsentieren um diese Erweiterung zu rechtfertigen. Mit PIGGY (2022) ist nun wieder mal der Fall eingetreten, dass ein packender Kurzfilm zum Langfilm aufgeblasen wurde. Der Crime-Horror-Thriller, in dem Regisseurin und Drehbuchautorin Carlota Pereda Themen wie „Bodyshaming“ und „Mobbing“ verhandelt, war Teil des diesjährigen Fantasy Filmfests und kommt nun über Alamode Film auch regulär in die deutschen Kinos, bevor Pierrot le Fou die spanische Produktion bereits im Dezember auf dem Heimkino-Markt veröffentlicht. Ob sich die Sichtung für Genrefans lohnt, erfahrt ihr in unserer Kritik.
Originaltitel: Cerdita
Drehbuch & Regie: Carlota Pereda
Darsteller: Laura Galán, Richard Holmes, Carmen Machi, Irene Ferreiro, Camille Aguilar, José Pastor…
Artikel von Christopher Feldmann
Handlung:
Nicht jeder liebt die Sommerzeit. Für die übergewichtige Sara (Laura Galán) bedeutet „Sommer“ nur, dass sie ständig mit dem Gelächter, den Urteilen und Beschimpfungen der Schulschönheiten zu kämpfen hat. Doch dann taucht ein mysteriöser Unbekannter im Dorf auf und plötzlich sind Saras Peinigerinnen spurlos verschwunden. Endlich scheint sich jemand für sie einzusetzen. Sara ist die einzige Zeugin der brutalen Tat. Ein wortloser Pakt, den keiner von beiden verraten wird, ist geschlossen. Das Verbrechen erschüttert das Dorf und bald beginnen die Ermittlungen. Doch anstatt Licht ins Dunkel zu bringen, setzt Sara alles daran, die Spuren zu verwischen.
Ein übergewichtiges Mädchen wird von anderen Gleichaltrigen auf das übelste gemobbt und psychisch malträtiert, sowie fast im örtlichen Freibad ertränkt. Mit einem höchst zynischen Cliffhanger, indem Sara beobachtet, wie ihre Peiniger von einem Unbekannten entführt werden und sich nach kurzer Überlegung die Kopfhörer aufsetzt, während sie dem wegfahrenden Transporter nachblickt, in dem die blutenden Mädels um Hilfe schreien, endet der rund 14-minütige Kurzfilm von Regisseurin und Autorin Carlota Pereda. Nun lieferte die Spanierin unter dem gleichen Titel, PIGGY, die Spielfilmversion, die in der ersten viertel Stunde inhaltsgleich mit dem Kurzfilmpendent ist. Nun geht es vielmehr darum, diese Ausgangssituation weiterzuspinnen, zu zeigen wie Sara und auch ihr Umfeld mit dieser zurechtkommen und welche Dynamik sich daraus entwickelt.
PIGGY ist ein echter Genre-Mix, der von Drama über Crime-Thriller bis hin zum Slasher so ziemlich alles abdeckt, selbst eine eigentlich zarte Liebesgeschichte findet noch Platz in diesem Film. Der Ansatz, die Protagonistin in ein moralisches Dilemma zu werfen und die Frage zu stellen, ob diese aus Rache schweigen oder aus moralischer Integrität vergeben soll, um eventuell Menschenleben zu retten, ist spannend. So spielt der Film gekonnt mit seinen Möglichkeiten und fokussiert sich auf die Dynamik, die sich aus dem Fall heraus ergibt. Die tratschenden Dorfbewohner, der Verdacht, dass Sara mehr wissen könnte als sie zugeben möchte und auch der geheimnisvolle Killer kulminieren in einem interessanten Geflecht, das sich darum bemüht, ein Statement gegen Mobbing und „Bodyshaming“ abzugeben. So richtig gelingt dies nicht, denn die Regisseurin hat eigentlich nicht mehr über diese Themen zu sagen, als wir sowieso schon wissen und auch in den ersten Minuten des Films gesehen haben. PIGGY funktioniert viel mehr auf der Genreebene, in dem sie ungewöhnliche Zutaten vermengt, etwa die offensichtlichen und ehrlichen Gefühle des Killers für das Mobbing-Opfer, der mit seinen Taten zum einen die Vergeltung in die eigene Hand nimmt, als auch gleichzeitig einen Liebesbeweis erbringt. Vieles davon passiert ohne Dialog und spielt sich eher zwischen den Zeilen ab, was mir besonders gut gefallen hat. Auch Saras herrische Mutter spielt eine gewichtige Rolle, was nur noch für mehr Dynamik sorgt, gerade wenn das Umfeld Saras mehr und mehr ins Zentrum der Geschichte rückt.
Der gelungenste Aspekt ist der Crime-Part, denn dieser sorgt für die größte Spannung, gerade wenn Saras mit Mühe und Not aufrecht erhaltene Fassade langsam bröckelt. Zwar hätte mir auch ein stärkerer Fokus auf die Beziehung zwischen ihr und dem Killer gut gefallen aber Carlota Pereda schafft es dennoch gut eine dichte Atmosphäre und eine hohe Spannung aufzubauen. Und auch wenn sich die Story im zweiten Drittel etwas im Kreis dreht, man bleibt immer dabei und fiebert mit, weil so ziemlich alles möglich erscheint. Erst im Finale verliert sich das Ganze in klassischen Slasher-Tropes und es wird geschrien und geblutet und auch das Versteckspiel mit dem Täter darf natürlich nicht fehlen. Hier wird PIGGY dann leider doch ziemlich generisch und endet auf einer ähnlichen aber auch weniger kraftvollen Note wie der Kurzfilm. Tatsächlich muss man sagen, dass mit Spielfilmlänge etwas Wucht verloren geht, auch weil Sara stellenweise als sehr einfältig und auch etwas dümmlich charakterisiert wird, nimmt der Film ihr in gewisser Weise ein Stück weit das Empowerment, das man sich als Zuschauer eigentlich für die Figur wünscht. Man muss ihre Untätigkeit in Bezug auf die Ereignisse selbst deuten, hält sich der Film mit definitiven Antworten doch auffallend zurück. Hat Sara Angst? Empfindet sie Genugtuung? Genießt sie die Umkehrung der Machtverhältnisse? All dies bleibt sehr schemenhaft, der Kurzfilm war mit seinem Ende schon weitaus eindeutiger.
Inszenatorisch weiß die Langfilmversion allerdings vollends zu überzeugen. Pereda kreiert stimmungsvolle Bilder, von melancholisch bis düster, ja manchmal sogar angenehm schwarzhumorig. So entfaltet sich eine bedrückende Sommerstimmung, die für den Zuschauer ähnlich anstrengend wirkt wie für die Figuren. Ein großes Plus sind indes die Darsteller, allen voran Laura Galán, die bereits in der Kurzfilmversion die Hauptrolle verkörperte. Sie spielt die Figur besonders eindringlich, so kann man ihr jede Form von Angst und Schmerz aus dem Gesicht ablesen. Eine weitere Bereicherung ist indes Carmen Machi als übergriffige Mutter, die ihre Rolle fantastisch verkörpert.
Alamode Film bringt den Festival-Hit am 27. Oktober im Kino. Uns lag zur Sichtung ein Screener in der Originalversion mit deutschen Untertiteln vor. Am 02. Dezember folgt die Auswertung für den Heimkino-Markt über Pierrot le Fou, unter anderem als Collector’s Edition im Mediabook.
Fazit:
PIGGY (2022) ist ein sehenswerter Genremix, der den zu Grunde liegenden Kurzfilm mit spannenden Ansätzen weiterspinnt aber dadurch auch etwas an Wucht verliert. Auch wenn das Ganze ein paar Schwächen hat und gerade gen Ende etwas abfällt, ist PIGGY ein spannendes Thriller-Drama mit Slasher-Elementen, dem man durchaus eine Chance geben sollte.
Amazon-Links:
PIGGY als Kurzfilm bei YouTube
Christophers Filmtagebuch bei Letterboxd – Your Life in Film