Auch in der siebten Woche in Folge hat man mir meine Medikamente vorenthalten und so muss ich mich weiter auf nüchternem Magen den Irrungen und Wirrungen der deutschen TV-Landschaft im Bereich Serien und Film widmen. Lasst meine Qualen und mein Opfer nicht umsonst gewesen sein und folgt mir dem Abgrund entgegen. Dabei könnt Ihr Euch auf eine Überraschung gefasst machen.
Ein Essay von Manuel Hinrichs
Mit riesigen Schritten bewegen wir uns auf eine vorläufige und unbequeme Erkenntnis zu:
Damit in diesem Land eine Erzählung auch nur eine Filmminute voranschreiten kann, verlässt man sich häufig auf die Konfliktpotenziale einer verschmähten Liebe, von gescheiterten Paar-, oder enttäuschenden Sexualbeziehungen. Bereits hier entsteht ein Problem: Liebesgeschichten o.ä. werden in deutschen Produktionen immer viel zu deutlich ausgesprochen, benannt, erklärt, während die eigentliche Genre-Erzählung immer mehr in den Hintergrund tritt. Während der Darstellung des Pärchenlebens meist sogar komplett.
Ich erwähnte es schon: Das Ergebnis ist häufig eine unharmonische filmische Erzählung, ein Ungleichgewicht zugunsten gekünstelt wirkender menschlicher Beziehungen, die sehr schnell völlig absurd wirken können. Beispiel: Natürlich gönnt man sich während einer Flucht keine romantischen Gespräche im Zimmer des einzigen Hotels am Platze, während die Verfolger auf dem Hotelparkplatz bereits ihre Waffen fertigladen und sich für ihren Angriff auf das Hotel vorbereiten. In dem Wissen, dass die Angreifer bisher vor nichts zurückgeschreckt sind, und das Passivität zu nichts führt, würde ich die verbleibende Zeit sicherlich nicht mit meiner Mitflüchtenden kuschelnd im Hotelbett verbringen, sondern mich auf einen Gegenangriff vorbereiten. Das heißt, dass ich nicht im Bett sterben würde, sondern auf dem Flur. Sollten die Protagonisten im Film sich für das Bett entscheiden, dann erzeugt es schon wieder den Nebeneffekt, dass einem die Filmfiguren egal werden, wenn sie sich so dämlich verhalten. Es wäre jener Moment, in welchem ich den Film oder die Serie stoppe. Und ich bin schmerzfrei genug, um das selbst im neunten Teil eines Zehnteilers zu tun.
Man kann es daher auch nicht oft genug betonen:
Auch wegen dieses Unvermögens erreichte bisher keine deutsche Serie die erzählerische Tiefe von Serien wie The Crown (z.Zt. 5 Staffeln / UK 2016-2022) oder Chernobyl (UK/USA 2019). Mit diesem Anspruch nach Genauigkeit in der Erzählung und in den Figurenzeichnungen, erschien die vermutlich die beste TV-Serie der Welt; und wie versprochen, kam sie aus Italien.
Natürlich ist hier von Gomorrha die Rede, die zwischen 2014 und 2021 in fünf Staffeln die Qualität von Fernseherzählungen auf eine neue Ebene hob. Bevölkert wird sie von einer ganzen Spannbreite aus soziokulturellen Milieus: von Motorroller fahrenden Laufburschen mit ’ner Glock am Gürtel, über Fußsoldaten ohne Gewissen, und Bossen mit miesem Sofageschmack bis hin zu ein paar der dysfunktionalsten Familienstrukturen, die man je im TV gesehen hat.
Tatsächlich ist Gomorrha die Serie zum Thema „Familie“ – und sie macht da keine Gefangenen.
Sie entlarvt die angeblich so heilige Blutsverwandtschaft der Familie als hohle Phrase auf dem Weg zur Macht, auf dem jeder sich selbst am nächsten ist. Natürlich sind Don Pietro Savastano (Fortunato Gerlino) sein Sohn Gennaro (Salvatore Esposito) und Fußsoldat Ciro di Marzio, der „Unsterbliche“ (Marco D’Amore), weit davon entfernt, Mitglieder einer wie auch immer gearteten ehrenwerten Gesellschaft zu sein. Sie alle sind Charaktere der Gegenwart – und diese Gegenwart kennt keine zementierten Regeln und keine Traditionen.
Wir machten Bekanntschaft mit Enzo, dem „Hochwohlgeborenen“ (Arturo Muselli) und ebenso mit einer der tollsten, nein, toughsten Frauenrollen der letzten 50 Jahre: Patrizia!
Ohne Kleinmädchen-Codes, d.h. ohne den Hauch eines beschwichtigenden Lächelns, gab die italienische Schauspielerin Cristiana Dell’Anna ihrer Rolle eine Tiefe, die tragisch und anziehend zugleich ist. Alleine diese beiden Rollen des Enzo und der Patrizia wären es schon für sich alleine wert, diese Serie noch mal komplett von Anfang bis Ende zuschauen. Ein Effekt, den ich in gleicher Form bisher nur bei der Serie Bosch erlebt hatte. Dazu später mehr.
Die Handlungen der Protagonisten von Gomorrha waren innerhalb ihrer Prämisse dann auch jederzeit glaubwürdig. Diese Charaktere schienen lebendig zu sein; in ihrer Realität verwurzelt. Spätestens aber, wenn der Zuschauer in Staffel 4 das Haus der konkurrierenden Familie von Don Gerlando Levante (Gianni Parisi) betrat, kam uns eine Zeile aus William Shakespeare’s Theaterstück The Tempest/ Der Sturm) in den Sinn: „Die Hölle ist leer… alle Teufel sind hier!“.
Das trifft es dann auch ziemlich genau: Gomorrha ist ein Werk von Shakespeareschem Ausmaß und eine der wenigen epischen Romanerzählungen, die den Zuschauer in den Abgrund der Menschheit schauen lässt, hier am Beispiel des Mikrokosmos der neapolitanischen Stadtteile Scampia und Secondigliano.
Während man sich bei Game of Thrones zur Not immer hinter die Abstraktion der dort gezeigten Phantasiewelt zurückziehen konnte, fielt dieser Ausweg bei Gomorrha zum Glück weg. Hier musste man sich mit menschlichen Abgründen auseinandersetzen, welche wohl uns Allen innewohnen. Es waren jene Abgründe, die Gomorrha auch mit der brillanten Logistik-Werkschau ZeroZeroZero gemein hatte. Bei beiden Serienprojekten war alles auf den Punkt genau beschrieben, dem Autoren Roberto Saviano sei Dank.
„Dank“ wäre dann auch das Mindeste, was man diesem Autoren (oder Chronisten?) der italienischen Gegenwartskriminalität entgegenbringen sollte, zahlte Roberto Saviano seit Veröffentlichung des Romans im Jahre 2006 doch mit einem Leben unter Polizeischutz.
Nicht, dass ihm dabei langweilig geworden wäre, veröffentlichte er im Jahr 2013 schließlich das Sachbuch ZeroZeroZero. Zweimal Premiumniveau! Das ist mal Chuzpe. Man stelle sich mal vor, Saviano hätte nur Unterhaltungsware geschrieben – was wäre das für eine Verschwendung gewesen.
Ganz im Gegensatz zu Martin Scorseses Stadtteilportrait Good Fellas (1990) oder Brian de Palmas Exilkubaner Scarface (1983), nach deren Erscheinen plötzlich jeder modebewusste Filmfan eine halblange Lederjacke trug und sich wahlweise für Henry Hill oder Tony Montana hielt, besaßen die Gomorrha-Charaktere absolut keinen Coolness-Faktor. Zwar trug Ciro, der „Unsterbliche“ auch eine dieser halblangen Lederjacken, aber schnell ließ er keinen Zweifel daran, dass er kein Modepüppchen war. Überhaupt fiel hier auf, wie abfällig die Insignien des Reichtums abgefrühstückt wurden. Mehr „Anti“, und weniger „Held“ ging kaum.
Daher ist auch nicht genug zu würdigen, dass sowohl Gomorrha als auch ZeroZeroZero die Lebensumstände dieser „Familien“ nicht als chic oder nachahmenswert darstellten, sie nicht bewarben. Der kongeniale Regisseur Stefano Sollima hatte bei der straffen Inszenierung der beiden Stoffe ganze Arbeit geleistet. Zur Schau gestellter Selbstzweck war nicht erkennbar. Sollte aber doch mal so etwas wie „Style“ durchgeschimmert sein, dann war immer klar, dass es ein Zitat aus der Popkultur war.
Auf Antihelden vertrauten in ihren TV-Krimireihen auch die Engländer. Am Beispiel von Für alle Fälle Fitz (5 Staffeln / 1993-2006) auf einen saufenden Drecksack mit Psychologie-Professur, perfekt verkörpert von einem großartigen Robbie Coltrane der seine Unzulänglichkeiten stets mit einer Beleidigung oder einer ungefragten Psychoanalyse zu parieren wusste.
Oder was wäre mit einem stets am Rande der Legalität mäandernden Policeinspector, der neben seinen Fällen von einer hinreißenden Psychopathin gestalkt wird, verkörpert von Idris Elba und Ruth Wilson in der englischen TV-Reihe Luther (5 Staffeln / 2011-2019)?
Was Sir Arthur Conan Doyle dazu gesagt hätte, dass seine Romanfigur des Sherlock Holmes über 100 Jahre nach seinem Erscheinen zu einem funktionalen Soziopathen mutiert, können wir natürlich nicht wissen. Aber wie Benedict Cumberbatch als Sherlock Holmes und Martin Freeman als John Watson im Londoner Chaos der Gegenwart einen klaren Blick bewahrten, machte die TV-Reihe Sherlock (4 Staffeln / 2010-2017) zu einer zukunftsfähigen Version, inklusive aller Nebencharaktere. Deerstalker ab!
Bereits mit ihrem Gamechanger The Sopranos (6 Staffeln / 1999-2007) zeigten auch die US-Amerikaner, wie eine moderne TV-Serie erzählt werden muss, damit sich die Zuschauer nicht nur mit-, sondern auch ernstgenommen fühlen. Ein über jeden Zweifel erhabener James Gandolfini spielte sich seine Seele aus dem Leib und fand darin seine darstellerische Mitte.
Jetzt wird es wahrscheinlich für einige Leserinnen und Leser doch etwas zu grenzüberschreitend, denn leider geht es mir ja auch um ernsthafte und nachvollziehbare Erzählungen. Um Platz und Zeit zu sparen, überspringen wir daher an dieser Stelle einfach mal die im Detail etwas augenzwinkernden Serien Six Feet Under (5 Staffeln / 2001-2005) Dexter (8 Staffeln / 2006-2013) und auch Breaking Bad (5 Staffeln / 2008-2013).
Gerade die letztgenannte Serie hatte für mich eindeutig zu viel Füllmaterial und dadurch wirklich immer einige Folgen zu viel pro Staffel. Für den eigentlich simplen Plot letztendlich sogar zu viele Staffeln, wenn man bedenkt, welch eine überschaubare Geschichte hier erzählt werden sollte. So gab es dann einige Ideen, die sich laufend wiederholen mussten, um den ganzen verfügbaren Platz zu füllen.
Außerdem überspringen wir 24 (8 Staffeln / 2001-2010), The Shield (7 Staffeln/ 2002-2008) und leider auch True Detektive (3 Staffeln / 2014-2019). Hier hatte ich mir allerdings nur die erste Staffel aufgehoben. Denn bei mir geht es auch darum, was ich nochmal schauen würde… und nochmal… und… genau: nochmal!
24 und The Shield waren zwar sehr gut und sehr straff, hatten aber leider nicht genügend Zwischentöne, um mich nachhaltig zu beeindrucken. Es ist daher anzunehmen, dass es wohl die Serie The Wire (5 Staffeln / 2002-2008) war, die das Spektrum der TV-Serien in Richtung einer „Absolute No Nonsense“-Erzählung erweiterte. Durch sie wurde z.B. Mindhunter (2 Staffeln / 2017-2019) überhaupt erst möglich.
In dieser absolut ernsthaften Serie drehte sich absolut alles um die Zwischentöne, um das, was nicht gesagt oder ausgesprochen wird. Z.B. die bedürfnisorientierten Ablagesituationen von Mordopfern und um die Befragung von Serientätern. Schlicht um nichts weniger, als die Anfänge der Verknüpfung der forensischen Psychiatrie mit den Mordermittlungen von seriellen Kapitalverbrechen beim Federal Bureau of Investigation... man wurde quasi Zeuge, wie sich der Begriff „Serientäter“ etabliert.
Auf unnötigen Schisslaweng und sonstiges Gedöns verzichtete auch die zu jedem Zeitpunkt glaubwürdige Serie Bosch (7 Staffeln / 2014-2021), über der stets ein Teppich einer nicht greifbaren Bedrohung zu liegen schien. Sie war nicht nur eines der absoluten Highlights innerhalb ihres Genres, sondern war auch bis in die vierte, fünfte Reihe mit glaubwürdigen Charakteren besetzt.
Das ist auch einer jener Gründe, warum man Bosch immer wieder schauen kann: Man kann sich immer wieder neu aussuchen, auf welchen Seriencharakter man seinen Sehschwerpunkt legt, welcher Person man folgen möchte. Nach der Hauptfigur des Hieronymus Bosch (Titus Welliver) vielleicht J.Edgar (Jamie Hector)? Oder Maddie Bosch (Madison Lintz)? Lt. Grace Billets (Amy Aquino)?, Chief Irvin Irving (Lance Reddick)? oder gar Honey Chandler (Mimi Rogers)? Bisher bin ich bei drei kompletten Durchläufen und entdecke immer noch Details, die mir vorher entgangen waren. Und während ich noch so darüber nachdenke, bekomme ich schon wieder Lust.
Apropos „Bedrohung“. Sie schwebte übrigens auch über der heftigen Serie The North Water (USA/UK 2021), welche die Geschichte eines Chirurgs auf einem Walfangschiff des Jahres 1859 erzählte. Die Bedrohung kam hier aber nicht in Form eines Tuunbaqs oder von mit Blei versiegelten Dosen (The Terror / 2019), sondern in Gestalt von Colin Farrell, der hier eine physische Bedrohung ausstrahlte, dass kein Mensch auf das Schiff gehen würde, wenn er noch bei klarem Verstand wäre.
Diese Serie wäre dann auch mal eine Sehempfehlung für all diejenigen, die sich in die „gute alte Zeit“ zurückwünschen – aber wahrscheinlich meinten sie eine andere „gute alte Zeit“. Wie schön, wenn man die Freiheit der Wahl hat. Wie missverständlich die Verheißung der Freiheit dann aber wirklich sein kann, zeigten auch die Siedler in der folgenden Serie.
Vielleicht war es ja nur Glück, aber Taylor Sheridans Meisterstück 1883 (2021) gelang zusammen mit ihrer Folgegeschichte 1923 (2023) ein wirklich furchterregender Blick in die Tragödie der Vereinigten Staaten, in die gewalttätige Seele Amerikas, mit Auswirkungen, die vor Allem die indigenen und schwarzen Bevölkerungsgruppen bis heute zu spüren bekommen.
Vielleicht liege ich aber auch falsch und es war einfach ein furchterregender Blick in die schwarze Seele der Menschheit. Allerdings steht es noch in den Sternen, wann das verbindende Serienprodukt um den Aufstieg der Familie Dutton erscheinen wird, um die Lücke zu Sheridans Gegenwartsquintett Yellowstone (fünf Staffeln / 2018-2023?) auf der Zeitachse zu schließen.
Ich stellte mir vor, wieviel Leid wohl hätte vermieden werden können, wenn die indigenen Einwohner auf dem nordamerikanischen Kontinent des Jahres 1492 dem anlandenden europäischen Pöbel Einhalt geboten, im Zweifel getötet, gepfählt, entlang der Strände aufgestellt, mindestens aber zurück in den Atlantik geworfen und auch die kommenden Landeversuche mit äußerster Härte pariert hätten. Das Motto hätte sein müssen: „Keine Gefangenen!“.
Ja, das liest sich sicherlich wie ein unfreundlicher Akt gegenüber den USA. Aber hier? Und dann auch noch zur Halbzeit? Kommen wir erstmal zurück zu Taylor Sheridans Meisterstück.
1883 kann durchaus als Psychoanalyse eines Landes durchgehen, dessen Wirtschaftssystem auf Sklaverei und dessen Gesellschaftsform auf Diebstahl, Landraub, sowie hunderten verübten Völkermorden beruht. Im Gewand eines Westerns zeigte diese Serie letztendlich auf, dass man sich in einem unbekannten Land, vor gar nicht allzu langer Zeit, nicht wie die Axt im Walde aufführen sollte. Und das alles schon mal gar nicht in einem Land, das bereits vor Ankunft der ersten Europäer bewohnt war.
1883 gehört zu den besten Beiträgen zu diesem Thema. Sie zeigt, dass Freiheit eben gerade nicht bedeutet, dass man einfach machen kann, was man will. Hier haben wir erneut den seltenen Fall einer Serie, die bis in die hinterste der allerkleinsten Rollen perfekt besetzt war. Man folgt allen Charakteren, weil auch sie jederzeit glaubwürdig in ihrer Welt verhaftet sind. So gab es keine einzige Figur, an die man nicht hätte andocken können. All ihre Handlungen und Motive waren jederzeit nachvollziehbar und glaubwürdig.
Meiner Meinung nach war die Serie 1883 ganz klar auf Augenhöhe mit dem Film Hostiles-Feinde (2017) und nur Nuancen von The Revenant (2015) entfernt, wobei die Stimmungsbilder aber durchaus verwandt waren. So sucht man hier vermeintlich coole „One-Liner“ zum Glück vergebens. Lobenswert, wenn Serien oder Filme es schaffen, ernsthaft zu bleiben. Nicht ganz auszuschließen, dass dieses Bedürfnis nach Ernsthaftigkeit noch ein Überbleibsel meiner 1970er Jahre-Politthriller-Sozialisation ist.
Einen Film wie Django-Unchained (2012) kann ich zwar ebenfalls abfeiern, benötige dafür aber eine komplett andere Grundstimmung. Dass der Goldjunge Taylor Sheridan wohl aber nur dann wirklich gut ist, wenn er die Geschichten alleine schreibt, werden wir noch im nächsten Teil dieses Beitrages erfahren.
Weil meine Laune gerade viel zu gut wird, will ich nicht verhehlen, dass gerade auch modernes US-Erzählfernsehen einen mitunter wirklich üblen Beigeschmack haben kann… ja, sich gar schamlos des neoliberalen Framings bedient. Und hier tut sich bisher leider besonders ein Anbieter hervor. Diesen Anbieter muss man sich leisten können, denn er unternimmt sehr große Anstrengungen, seine Zielgruppe zu befriedigen.
So behandelt die Apple-Serie Extrapolation (2023) mit einer Vorschau in die Zukunft die Folgen des Klimawandels. In episodenhaften Handlungssträngen wird hier ein globales Anliegen erzählt, in denen sich die Protagonisten auf ihrer Suche nach Lösungen nicht einmal ansatzweise dem Kern des Problems annähern. Dies ist erkennbar daran, dass sie ihr (Konsum-) Verhalten nicht ändern und lieber in typisch amerikanischer Technikgläubigkeit nach Lösungen suchen. Aber das ist wohl einfacher, als bei sich selbst anzufangen.
Wie schön ist zum Beispiel, dass im Jahre 2059 die für die Probleme dieses Planeten Verantwortlichen nach wie vor zur Freizeit über das Meer segeln und sich als Lösung für unsere Probleme gerieren können und trotz bereits schon im Jahre 2047 konstatiertem Trinkwassermangel und Überbevölkerung immer noch in verschwenderischen Wohnwelten residieren, auf dessen Trinkwasseroberfläche des Indoor-Pools die neuesten Prognosen zur Entwicklung des eigenen „Blue-Chip“-Unternehmens projiziert werden können. Kollateralschäden und Verlierer des Wohlstands finden ausschließlich in Nachrichtenschnipseln auf Flatscreens von der Größe einer Tischtennisplatte statt. Ein Fest für das obere Prozent, mehr nicht.
Mit der Serie The Big Door Prize (2023) setzte Apple dieses Konzept fort. Auch hier wird dem Zuschauer weisgemacht, dass ausgerechnet jene ein Teil der Lösung sind, die durch ihren Lebenswandel den Karren überhaupt erst in den Dreck gefahren haben. Gleichzeitig wird dem geneigten Zuschauer das typisch amerikanische „Glaube an Dich“-Mantra bis zum Erbrechen um die Ohren geschlagen. Also doch kein neoliberales Framing?
Nun ja… zu einem echten „neoliberalen Framing“ würde es ja gehören, schlecht Ausgebildeten noch unter die Nase reiben, dass sie keinen Wert haben und sie an ihrer Armut vielleicht sogar auch selber Schuld sind. Mal sehen, auf was wir da noch stoßen werden. In der Serie The Big Door Prize geht es um einen Kasten von der Größe einer alten Jahrmarkt-Spielekonsole á la Space Invaders, der plötzlich in einem Gemischtwarenladen steht und den vom eigenen Leben gelangweilten Mittelstandsbewohnern einer Kleinstadt nach Einwurf von nur zwei Dollar ihre persönliche Glücksmelodie, nein, ihr „Lebenspotential“ mitteilt. Für seine persönliche „Erleuchtung“ müsste man nur seine Sozialversicherungsnummer eingeben und die eigenen Handabdrücke scannen lassen.
Treffer! Gleich zwei hochsensible Datensätze, welche die neugierigen Bewohner da mit erschreckender Naivität hergeben. Wohlgemerkt einem Kasten von unklarer Herkunft, der gestern noch gar nicht da war. Es ist eine Welt, in der es scheinbar keine Zweifel, keine Kritik, vor allem aber keine Identitätsdiebstähle gibt, dafür aber ein großes Gottvertrauen in fremde schwarze Kästen mit unbekannten und undurchschaubaren Verkabelungen im Inneren. Aber Vorsicht: Allzu technikkritische Fragen können zu erheblichen Kopfschmerzen führen… deswegen erst einmal weiter.
In einer Folge der Serie The Big Door Prize wird in einem Restaurant bei einem Glas Weißwein lächelnd darüber parliert, dass ja sehr wahrscheinlich nur jene es öffentlich machen würden, bei denen der Vorhersagekasten einen „allgemein anerkannten sozialökonomischen Status“ prognostiziert hat. Alle anderen würden sich vor Scham(!) doch niemals outen, wenn der Vorhersagekasten „Dritter Müllmann von Deerfield“ als Lebenspotential ausgespuckt hätte.
Müllmann? Nein, das ist offenbar kein Job, mit dem diese verkommenen Mittelstands-Bitches beim Brunch angeben könnten und Teil des typisch amerikanischen neoliberalen Denkmusters, welches Menschen in die Kategorien „Gewinner“ und „Verlierer“ aufteilt.
Superlustiger Move für jeden, der glaubt, dass man alles schaffen kann, was man will. Es sei denn, man schafft es eben nicht, aber dann ist man ja auch ohnehin selber schuld. Eine neoliberale Sicht auf die Gesellschaft „at its best“ und eine Serie für alle, die sich gerne abwärts vergleichen und sich gleich „beneidet“ fühlen, wenn ihr „Way of Life“ Fragen aufwirft.
Jedenfalls folgte an Esoterik grenzendes Geschwurbel über den Sinn des Lebens – und ob hinter der nächsten Ecke nicht doch ein „neues Leben“ warten könnte… eine neue „Opportunity“.
Das Leben an sich und die Menschen darin als Konsumgut betrachten ist schon eine interessante Spielart von „Freiheit“. Dahinter kann man so ziemlich jede Anmaßung verstecken. Liberalismus wird hier hauptsächlich als eigene Freiheit wahrgenommen. Unter dem Deckmantel einer erhabenen Intellektualität wohnt man auch bei dieser Apple- Produktion nahezu ausschließlich wohlstandsverwahrlosten Mittelständlern mit zumindest fragwürdigen Charakteren bei, die sich für das Zentrum der Welt halten. So wie jeder Teenager.
Sicher doch. Ihr habt ja recht. Warum sollte man sich eigentlich darüber aufregen? Diese Stories entspringen doch nur der Fantasie von Autoren. Es fällt aber halt schon auf, dass die Filmcharaktere der Serien exakt dieses Anbieters sehr häufig einen ganz bestimmten gesellschaftlichen Acker bewirtschaften, einen ganz bestimmten Lifestyle. Wahrscheinlich ist dieser Lifestyle als Augenfutter gedacht, aber defacto sind es eher Nebelkerzen. Denn wenn das Drehbuch erzählerisch defizitär ist, reicht auch keine noch so gute Inszenierung, kein noch so guter Look, keine noch so gute Darstellung, keine noch so gute Ausstattung.
Mit einer Fokussierung auf formale Perfektion, zeigten Extrapolation und The Big Door Prize hauptsächlich Eines: Desinteresse am Zuschauer! Nicht zum ersten Mal fragte man sich, warum man aus Selbstzweck platzierten Arschlöchern dabei zuschauen sollte, wie sie sich wie ein Arschloch verhalten. Und diese Frage ist noch nicht geklärt.
Auch die Apple-Serie Beschütze sie (2023) beleuchtete natürlich die bewegenden und anrührenden Probleme der oberen Mittelschicht von der ich dachte, dass es sie schon gar nicht mehr geben würde und wir deshalb am Abgrund stehen würden. Egal… auch in dieser Serie ist sie jedenfalls existent und bei allerbester Gesundheit.
Natürlich verhalten sich auch in dieser Serie Menschen in Ausnahmesituationen nicht, wie Menschen sich eigentlich in Ausnahmesituationen verhalten würden. Obwohl der Ehemann offenbar wegen eines schweren Betruges auf der Flucht ist, bleibt die Ehefrau seltsam unbeteiligt und kümmert sich weiterhin um ihr (natürlich!) exotisches Handwerk des Drechselns… ja, genau… eine Holzfachkraft. Ein Tätigkeitsfeld, das auf mich ähnlich glaubwürdig wirkte, wie beispielsweise… öhm… Denise Richards als… sagen wir mal… Kernphysikerin.
Die sechzehnjährige Tochter steckt derweil schmollend in ihrer Pubertät fest, als ob Papa sie gerade erst auf ihr Zimmer geschickt hätte. Mit Sechzehn! Endlich drohte die Erzählung an, sich weiterentwickeln zu wollen und so klopfte das FBI an die Edelholztür des Hausbootes, das an einem Steg festgemacht war, welcher mit einem traumhaften Blick auf den Hafen von Sausalito aufwarten konnte.
Auf was würden die Autoren wohl als nächstes kommen? Zum Glück blieb einem wenigstens ein weiteres Kreativgewitter erspart. Bestimmt waren die Autoren nur noch wenige Zeilen vom Pelikan auf einem Hafenpoller oder einem privat gehaltenen Alligator auf dem Hausboot des Nachbarn entfernt. Unverständlich blieb, warum die Handlungen und Lebensabläufe von Frau und Tochter künstlich, kalt, ohne Bezug und losgelöst zum gerade Erlebten, gleichgültig und ohne Intentionen, Regungen beim Zuschauer hervorzurufen geschrieben wurden… fast so, als wenn man zuerst den Drehort hatte und dann anfing, eine Handlung zu ersinnen… „stellt euch mal einen Bootsanleger vor…!“.
Bleibt noch die Möglichkeit, dass Distanz als Stilmittel eingesetzt wurde. Die Wahrung der Oberfläche scheint den Figuren dieser Serie denn auch das Wichtigste zu sein. Mein Blutdruck kommt aber erst so richtig in Wallungen, wenn Drehbuchautoren alle Rollen so schreiben, wie Drehbuchautoren glauben, dass Menschen sprechen würden. So sagt Madame Ehefrau zu ihrem Anwalt, welcher (natüüürlich!) gleichzeitig auch ihr Exfreund ist, dass sie sich nicht vorstellen kann, dass ihr Mann in so etwas verwickelt ist. Darauf antwortet der, dass man nicht flieht, wenn man unschuldig ist.
Nun könnte sie aufgebracht reagieren, aber tatsächlich sagt sie: „Bitte nicht mit dieser Harvard-Stimme!“. Uiihhh.. eine Andeutung für all diejenigen, die noch nicht verstanden hatten, in welchem Millieu wir uns bewegen. Die „Harvard-Stimme“ ihres Exfreundes, von dem sie Hilfe erwartet, bringt sie mehr aus der Ruhe, als ihre derzeitige Lebenssituation inklusive FBI vor der Tür, ihre pubertierende Tochter oder ein offenbar krimineller Ehemann auf der Flucht. Ein vermeintlich falscher Tonfall reicht, und sie kann offenbar weiterhin aus dem Vollen ihres Kräftehaushaltes schöpfen. Schön, wenn man Prioritäten hat.
Dazu werden erzählerische Schwächen mit Dialogen zu kaschiert, welche die gerade gezeigte Situation erklären. Formbeispiel: Zwei Protagonisten gehen in einen roten Raum, sagt einer „Gehen wir doch in diesen roten Raum!“. Es würde mich daher nicht wundern, wenn künstliche Intelligenz für die Dialoge herangezogen worden wäre. Nur sie könnte darauf gekommen sein, dass ein Ehemann auf der Flucht, dem vorgeworfen wird, Milliarden von Dollar unterschlagen zu haben, sowie der Ermittlungen durch das FBI, für seine Familie noch nicht Ausnahmesituation genug ist.
Derweil geht das Lookalike-Leben weiter: tuschelnde MitschülerInnen und Nachbarn und eine Flasche Weißwein als obligatorische Stressbewältigungsstrategie von Besserverdienern inklusive.
Schon wieder Weißwein… ausgerechnet.
Diese Serie war Paradebeispiel für eine Serie mit einer grundsätzlichen erzählerischen Schwäche oder das, was ich darunter verstehe: Schema F! Oder für den Rest der Welt: Die Schicksale der Protagonisten sind einem schlicht egal. Vielleicht dachte man sich, dass es ausreichen würde. Für menschliches Verhalten außerhalb dieser Schablone und eine ausgefeilte psychologische Tiefe der Charaktere war da wohl kein Budget mehr übrig.
Beschütze sie ist also nur eine weitere Apple-Reißbrettproduktion mit einer Art „simulierter Benutzeroberfläche“, der die Genauigkeit in der Erzählung und in den Figurenzeichnungen fehlt.
Die allergrößte Mühe gab man sich bezeichnenderweise dann auch mit dem Milieu, in dem die Geschichte spielte. Hier stimmte einfach alles: Der Look, die Ausstattung, die Sets / Drehorte / Locations, Kamera, Brennweiten, Tageszeit, Lichtsetzung, Bildauswahl und Bildgestaltung.
Wie bekommt man es also hin, dass die Autoren ähnlich viel Zeit in die Entwicklung der Charaktere stecken?
Ich hab’s: Schnellstens ein Handtuch nass machen und es sich um den Kopf wickeln.
Das dämpft das „Signal“ ab.
Ende Episode VII