In der vergangenen Nacht wurden zum 96. Mal die Oscars verliehen und auch Deutschland war gespannt, ob Landsfrau Sandra Hüller den Goldjungen für ihre Performance im Gerichtsdrama ANATOMIE EINES FALLS (2023) mit nach Hause nehmen würde. Leider musste sich Frau Hüller gegen Emma Stone geschlagen geben und von den verbliebenden vier Nominierungen konnte Justine Triets hochgehandelter Arthouse-Hit lediglich die Auszeichnung für das beste Original-Drehbuch für sich beanspruchen. Dennoch zählt der Film für viele Cineasten zu den großen Highlights des vergangenen Kinojahres. Mittlerweile hat Plaion Pictures den Film auch hierzulande im Heimkino veröffentlicht und ob es sich hierbei um das vielfach gefeierte Meisterwerk handelt, verraten wir euch in unserer Kritik.
Originaltitel: Anatomie d’une chute
Drehbuch: Justine Triet, Arthur Harari
Regie: Justine Triet
Darsteller: Sandra Hüller, Swann Arlaud, Milo Marchado-Graner, Antoine Reinartz, Samuel Theis, Jenny Beth…
Artikel von Christopher Feldmann
2023 dürfte das Jahr der Sandra Hüller gewesen sein, war die deutsche Schauspielerin doch in gleich zwei vielbeachteten und auch hochgelobten Produktionen zu sehen, die international auf ein begeistertes Echo stießen. So prämierte in bei den letztjährigen Filmfestspielen in Cannes THE ZONE OF INTEREST (2023), in dem Hüller als Ehefrau des Auschwitz-Kommandanten Rudolf Höß zu sehen ist. Das im 2. Weltkrieg angesiedelte Drama, das sich auf das Leben der Familie Höß, die in direkter Nachbarschaft zum Vernichtungslager residiert, wurde für fünf Oscars nominiert, holte die Trophäe letztendlich in den Kategorien „bester internationaler Film“ und „bester Ton“. Der Grund, warum Darstellerin Sandra Hüller nicht nominiert wurde, war schlicht die Tatsache, dass sie schon für einen anderen Film ins Rennen ging, der ebenfalls auf zahlreichen Bestenlisten des vergangenen Jahres zu finden ist. Für den Darstellerpreis hat es zwar auch mit ANATOMIE EINES FALLS (2023) nicht geklappt, dennoch ist das Justizdrama allein schon aufgrund ihrer Leistung absolut sehenswert. Wer allerdings einen spannenden Krimi im WhoDunit-Stil erwartet, wird vermutlich enttäuscht werden, ist Justine Triets Werk doch vor allem ein Film über dysfunktionale Beziehungen.
Handlung:
Seit zwei Jahren leben Sandra (Sandra Hüller), eine deutsche Schriftstellerin, ihr französischer Ehemann Samuel (Samuel Theis) und ihr elfjähriger Sohn Daniel (Milo Marchado-Graner) zurückgezogen in einem kleinen Ort in den französischen Alpen. An einem strahlenden Tag wird Samuel am Fuße ihres Chalets tot im Schnee gefunden. War es Mord? Selbstmord? Oder doch nur ein tragischer Unfall? Der Polizei erscheint Samuels plötzlicher Tod suspekt, und Sandra wird zur Hauptverdächtigen. Es folgt ein aufreibender Indizienprozess, der nach und nach nicht nur die Umstände von Samuels Tod, sondern auch Sandras und Samuels lebhafte Beziehung im Detail seziert.
Schon im Titel bezieht sich Regisseurin und Co-Autorin Justine Triet auf ein großes Meisterwerk, das offensichtlich Pate für die hier erzählte Geschichte stand. Otto Premingers ANATOMIE EINES MORDES (1959) sezierte schon seiner Zeit einen Mordfall, inklusive Gerichtsverhandlung. Dabei ging es weniger um die Tat an sich, sondern viel mehr um die Umstände, die zur Tat geführt hatten. Premingers Justizkrimi war weniger ein Whodunit, sondern viel mehr ein Whydunit. Mit einem ähnlichen Ansatz geht Triet bei ANATOMIE EINES FALLS (2023) zu Werke, was vermutlich viele Mainstream-Glotzer vergrätzen dürfte. Wer sich auf den Film einlässt, sollte keinen mit Wendungen gespickten Krimi erwarten, an dessen Ende das Rätsel um den Tathergang und die Täterschaft gelöst wird. Im Grunde ist die Frage, ob „Sandra“ ihren Ehemann getötet hat oder es sich doch um einen Unfall handelt, eher zweitranging. Stattdessen nutzt der Film den einen Großteil der Laufzeit einnehmenden Prozess, um eine Beziehung unter die Lupe zu nehmen, deren Zerfall immer ersichtlicher wird.
Zugegeben, auch meine Wenigkeit hat sich ein wenig von dem Krimi-Überzug blenden lassen und auf den Alles entscheidenden Twist gewartet, den der Film aber konsequent verweigert. Stattdessen wird der Todesfall recht antiklimatisch aufgelöst, was nach 160 Minuten Spielzeit für viele Interessierte vielleicht etwas zu wenig sein dürfte. Man sollte an ANATOMIE EINES FALLS mit der Gewissheit herangehen, keinen Thriller serviert zu bekommen, auch wenn der Film klassische Motive auf den Tisch legt. Figuren werden vorgestellt, ein mysteriöser Todesfall ereignet sich, Zweifel an der Protagonistin kommen auf und auch die ein oder andere überraschende Zeugenaussage findet statt. Trotzdem geht es im Kern viel mehr um dysfunktionale Beziehungen und den Verfall einer Ehe. Schon zu Beginn wird deutlich, dass das Zusammenleben von „Sandra“ und „Samuel“ nicht das Allerbeste ist, wenn er ein Interview, dass seine Frau gerade gibt, damit stört, indem er in voller Lautstärke ein Steeldrum-Cover von 50 Cents P.I.M.P. in Endlosschleife laufen lässt und damit auch die Flirtversuche mit der jungen Fragenstellerin im Keim erstickt. „Sandra“ wird im Verlauf des Films als Autorin dargestellt, die ihre Familiensituation gerne für eigene Romane nutzt, deren Karriere immer mehr Fahrt aufnimmt, während „Samuel“ unter dem Unfall des gemeinsamen Sohnes leidet, den er indirekt verschuldet hat und der dem Jungen die Sehkraft nahm.
Die Fragen, wer wieviel für das Familienglück opfert und wer eigene Probleme inwiefern verarbeitet, werden ebenso verhandelt wie das Problem der äußeren Wahrnehmung. Die nüchterne, stellenweise auch kühle Seite der Protagonistin, die mit einer Idee ihres Mannes zu erfolgreichen Romanautorin avancierte, eignet sich natürlich wunderbar als Sündenbock und spätestens wenn der Film einen handfesten Streit des Paares in der Retrospektive zeigt, der sowohl auf Bild- und Tonebene unterschiedliche Deutungen zulässt, kreiert ANATOMIE EINES FALLS ein vielschichtiges Bild, in das auch Themen wie Emanzipation hineinspielen. Im Grunde ist der Film mehr eine Neuauflage von SZENEN EINER EHE (1973) als ein klassischer Krimi. Essenziell ist auch das Thema „Wahrnehmung“, steht „Sandra“ doch als Deutsche vor einem französischen Gericht, die lediglich der englischen Sprache mächtig ist. Es wird gezeigt, wie das Gesehene und das Gesprochene die eigene Wahrnehmung beeinflussen. So bleibt auch das finale Urteil schlussendlich dem Zuschauer überlassen.
Passend zu der Geschichte inszeniert Justine Triet den Film erstaunlich nüchtern und zurückgenommen. Die winterliche Alpenlandschaft unweit von Grenoble spiegelt die Kälte des Ehelebens wieder, die Gerichtsszenen sind recht statisch gefilmt und auf Musik wird weitestgehend verzichtet. Im Fokus stehen die Darsteller und deren Dialoge, die allesamt erste Sahne sind. Selten fühlten sich gesprochene Worte in einem Film so authentisch und so lebensnah an, sodass es nicht verwundert, dass das Drehbuch einen Oscar gewann. Hier wirkt nichts aufgesetzt oder gekünstelt, die Schauspieler liefern allesamt Bestleistungen ab, allen voran Sandra Hüller, die mit ihrem nuancierten Spiel eine echte Wucht ist. Zwar habe ich bisher POOR THINGS (2023), für den Emma Stone den Goldjungen gewann, nicht gesehen, nach der Sichtung von ANATOMIE EINES FALLS würde ich Frau Hüller als in allen Belangen würdige Preisträgerin bezeichnen. Auch die restliche Besetzung kann überzeugen, besonders Milo Machado-Graner als 11-jähriger Sohn. Hervorragend. Aber ein wenig (subjektive) Kritik muss ich auch ein vermeintliches Meisterwerk gefallen lassen. Ich empfand das Ganze als sehr sehenswert aber dennoch etwas zäh. Mit 160 Minuten ist der Film nicht frei von Längen, zumal die Spannung etwas auf der Strecke bleibt, vermutlich weil ich auch mit den falschen Erwartungen an dieses Werk gegangen bin. Es gewinnt deutlich, wenn man weiß woran man ist.
Plaion Pictures veröffentlichte ANATOMIE EINES FALLS kürzlich digital, sowie als Blu-ray und DVD. Am 04. April erschein zudem eine weitere Special-Edition, allerdings exklusiv bei Amazon. Uns lag zur Sichtung die DVD vor, Bild- und Tonqualität sind gut, in den Extras finden sich ein Booklet (lediglich bei der Blu-ray-Edition), ein Interview mit Sandra Hüller, ein Featurette zum Dreh, sowie der Trailer.
Fazit:
ANATOMIE EINES FALLS (2023) ist weniger ein Gerichtskrimi, sondern viel mehr die Sezierung einer gescheiterten Ehe. Justine Triets Drama punktet vor allem mit authentischen Dialogen, klugen Beobachtungen und fantastischem Schauspiel. Fans des klassischen Spannungskinos schauen angesichts der nüchternen Erzählung etwas in die Röhre. Ein sehenswertes Stück Schauspielkino, von dem ich mir allerdings etwas mehr Spannung gewünscht hätte.
Amazon-Partner-Links:
Christophers Filmtagebuch bei Letterboxd – Your Life in Film