„Ferrari is the best car movie ever made!“ The Wall Street Journal / „One of the best Racing Movies ever!“ Esquire – So viel Euphorie macht mich skeptisch. Zuallererst aber eine Gewinnwarnung in eigener Sache: Als langjähriger „Warhorse“-Petrolhead werde ich meist dann hinzugezogen, wenn eine Einschätzung bezüglich eines Motorsport- oder Automobilhistorischen Filmes angefragt wird. Da der Film auf geschichtlich belegten Umständen basiert, könnt sicher sein, dass dieses hier kein Sprint wird, sondern ein Langstreckenrennen, bedeutet: Es wird an dieser Stelle etwas ausführlicher als sonst.
Regie: Michael Mann
Darsteller: Adam Driver, Penélope Cruz, Shailene Woodley, Patrick Dempsey, Gabriel Leone
Artikel von Manuel Hinrichs
Eine kurze Einführung:
Nach ersten frühen und recht erfolgreichen Erfahrungen als Betriebstestfahrer bei Costruzioni Meccaniche Nazionali/ CMN) wurde Enzo Ferrari 1920 Chefswerksfahrer bei Alfa Romeo. 1929 gründete er in Modena die Scuderia Ferrari, die sehr erfolgreich als Werksteam von Alfa Romeo fungierte. Dann wollte er was Eigenes. Am 1. September 1939 gründet er die Auto-Avio Costruzioni di Ferrari und baute für die Mille Miglia 1940 auf Basis des Fiat 805C zwei erste Fahrzeuge auf, den AAC 815. 1943 wurde die Werkstatt durch alliierte Bomber fast vollständig zerstört und Ferrari baute sie ein paar Kilometer südlich, in Maranello, wieder auf. Hier baute er im Jahre 1947 mit dem Rennwagen Tipo 125 Corsa (Fahrgestellnummer #01C) und dem Tipo 166 Stradale Coupe (Fahrgestellnummer #003S), im Grunde ebenfalls ein verkappter Rennwagen, zum ersten Mal vollkommen eigenständige Fahrzeuge. Siegreiche Rennwagen zu bauen war die Leidenschaft von Enzo Ferrari. Und sein Plan sah vor, sich diese Leidenschaft durch den Bau von Straßenwagen für betuchte Kunden finanzieren zu lassen. Dieser Geschäftsplan wird in den USA später „Win on Sunday, sell on Monday“-Strategie genannt.
Zehn Jahre nach Geschäftsgründung ist dieser Geschäftsplan in Gefahr. Anfang des Jahres 1957 bricht Jean Behra (Derek Hill/ der Sohn von Phil Hill, dem Formel 1-Weltmeister von 1961) auf dem konkurrierenden Rennwagen Maserati 250F erst den Streckenrekord auf dem Autodromo di Modena und dann stagniert auch noch die Nachfrage nach Ferraris Sport- und GT-Wagen. Der legendäre italienische Rennwagenbauer Ferrari steht also kurz vor dem Bankrott. Bereits seit 1923 ist er mit Laura Garello (Penélope Cruz) verheiratet, die nun faktisch die Firmengeschäfte führt. Die Beiden haben die Vereinbarung, dass er leben kann, wie er will, solange er jeden Morgen pünktlich am Frühstückstisch sitzt. Und tatsächlich hat er eine heimliche Beziehung mit Lina Lardi (Shailene Woodley), für die er ein Landhaus außerhalb von Modena gekauft hat. Laura ahnt zwar, dass ihr Mann fremdgeht, nicht jedoch, dass er seit zwölf Jahren eine Beziehung mit Lina unterhält, mit welcher er einen Sohn hat: Piero (Giuseppe Festinese). Enzo Ferrari (Adam Driver) steht also in jeder Hinsicht unter Druck. Erleichterung verspricht da der Sieg bei der Mille Miglia 1957, dieser könnte die Firma retten.
Als ich 2023 erfuhr, dass der Regisseur Michael Mann angetreten war, um ein Biopic über ein italienisches Nationalheiligtum zu drehen, war ich zugegebenerweise schon etwas neugierig, auch angesichts der durchwachsenen Ergebnisse anderer Filmemacher, die sich an Motorsport-Biopics versuchten. Da sich in Michael Manns Regie-Lebenslauf jedoch erzählerische Standardwerke, wie z.B. Der Einzelgänger (1981), Heat (1995), Insider (1999) und Miami Vice (2006) finden, und er auch ausführender Produzent der bahnbrechenden Serie Miami Vice (1985-1989) war, blickte ich recht zuversichtlich nach vorne. Wenn nicht er, wer sonst würde es schaffen, dem Nationaldenkmal Ferrari endlich eine angemessene filmische Seele einzuhauchen?
An dieser Stelle war die Versuchung groß, in den Chor jener Kritiker und Kritikerinnen einzustimmen, welche angesichts des Regisseurs entweder eine Augenbraue gelupft, oder die „großartige schauspielerische Arbeit“ von Penélope Cruz überbetont hatten, die natürlich „ungerechterweise bei den OSCAR-Nominierungen übergangen“ wurde, oder mich auf den „unglaubwürdigen amerikanischen Dialekt“ von Shailene Woodley oder gar Adam Driver als „Fehlbesetzung“ einzuschießen.
Mit Verlaub: Alle Beteiligten beherrschten ihr Handwerk, Ausdruck und die Darstellung einer Figur sind die Mindestanforderungen für SchauspielerInnen, eine Erzählung zu bebildern ist das Tagesgeschäft eines Regisseurs. Ob die Besetzung einer Schauspielerin oder eines Schauspielers in Rolle XY dem Publikum gefällt, unterliegt hier hauptsächlich dem persönlichen Geschmack der Zuschauerschaft und kann (sollte) nicht Gegenstand einer Filmkritik sein. Also auch nicht hier.
Das heißt allerdings nicht, dass es hier keine Irritationen geben würde. Alle Sympathien oder Antipathien mal beiseitegeschoben, fallen bei Ferrari zuallererst scheinbar nicht zu Ende entwickelte, flache Charaktere auf. Obwohl in der Realität allesamt absolute Superstars ihrer Zeit, sind die Rennfahrer in diesem Film niemals mehr als nur Bauern auf einem Schachbrett. Und was wissen wir über Schach? Am Ende landen alle Figuren in derselben Kiste.
Daher fällt es schwer, den mitunter durchaus seifenoperhaften Dialogzeilen der Figuren etwas Authentisches abzugewinnen. Zu eindimensional ist ihr zwischenmenschliches Verhalten oder ihre Reaktionen auf Vorkommnisse, und zu hingehuscht, zu hinuntergerattert, sind die historischen Abfolgen der Ereignisse. So führt es, bis auf ein paar kleine Ausnahmen, zu einem unrunden und irgendwie unbefriedigenden Seherlebnis. Aber immer, wenn ich dachte, ich bin raus, dann holten mich kleine Details wieder rein. In nur ganz wenigen Bruchteilen von Sekunden innerhalb einer Szene, schafften es sowohl Gabriel Leone als auch der schauspielernde Rennfahrer Patrick Dempsey (u.a. Le Mans Klassenzweiter auf Porsche 911 RSR im Jahre 2019!), in ihren Rollen der Rennfahrer Alfonso de Portago und des Silberfuchs Piero Taruffi, diesen Persönlichkeiten einige Charaktermerkmale zu verleihen.
Nachdem Werks-Fahrer Eugenio Castellotti (Marino Franchitti) im März 1957 bei einer Testfahrt auf dem Autodromo di Modena in Anwesenheit tödlich verunglückt war, erhielt Alfonso de Portago (Gabriel Leone) von Enzo Ferrari sofort einen Platz im Cockpit eines Werks-Rennwagens. Dass Castellottis Todessturz im Film dann allerdings ein wenig, wie ein noch nicht vollständig zu Ende gerendertes CGI-Handmuster aus dem Playstation 1-Erscheinungsjahr 1994 aussieht, lächelt man zu diesem Zeitpunkt noch weg.
Die Inszenierung von Jean Behras Rekordfahrt im Maserati 250F auf dem Autodromo di Modena war allerdings gut. Kunststück, handelte es sich hierbei doch um den echten 250F im Besitz von Pink Floyd–Drummer Nick Mason. Seine Firma Ten Tenths Ltd., vertreten durch seine Tochter Holly Mason, betreute den Wagen während der Dreharbeiten. Ihr Mann, der Rennfahrer Marino Franchitti, übernahm, wie oben bereits erwähnt, die Rolle von Eugenio Castellotti.
Soweit ich es überschaue, benutzt dieser 250F die Papiere von Fahrgestellnummer #2532, den Benzintank von #2531 und weitere Teile von #2530, aber so ist das halt bei einem alten Rennwagen. Und es war offenbar sogar ein zweiter, mir derzeit noch unbekannter, 250F an der Produktion beteiligt. Sowohl die 250F-Fahrten als auch die Formel 1 Test- und Rennszenen des Ferrari 801 F1, waren also allesamt dynamisch genug gefilmt. Wehrmutstropfen waren hierbei die leider immer viel zu kurz gezeigten roten und blauen FIAT 642 RN 2 Bartoletti Renntransporter, Originalfahrzeuge der Scuderia Ferrari und der Officine Maserati.
Aber auch der wirklich herrliche Nachbau eines 1957er Ferrari 250 Testa Rossa in den Werkstätten Sergio Scagliettis (im Film verkörpert von Lino Musella/ „Rosario“ in der Serie Gomorrha), wusste zu begeistern. Hübsche kleine Details für die Augen. Genauso, wie die authentischen Drehorte, z.B. jener Barbier, zu welchem Herr Ferrari immer zu gehen pflegte, oder sogar das originale(!) Mausoleum auf dem unfassbar schönen Friedhof von Modena, auf welchem Ferraris geliebter Sohn Alfredo ‚Dino‘ Ferrari im Jahre 1956 beigesetzt wurde.
Wen stört es da schon, dass der gelbe Ferrari 500TRC des autoverrückten König Hussein von Jordanien natürlich eines jener extra für den Film nachgebauten Exemplare des Ferrari 335S ist, der in einer heiklen Regenszene (siehe auch unten) von einem besonderen Mechaniker gefahren wurde: Marc Gené, von 2004-2018 Testfahrer beim „Real Deal“: Dem Rennstall Scuderia Ferrari!
Fun Fact am Rande: Zu keinem Zeitpunkt besaß König Hussein von Jordanien einen Ferrari-Rennsportwagen vom Schlage eines 500TRC, geschweige denn Großkaliber wie einen 315S oder gar 335S, sondern „nur“ diverse Straßen-Modelle, u.a. Ferrari 275GTB/2’s (#08305 und #08659), 512BB (#17751). Der König konnte sich aber auch für Porsche 904 Carrera GTS (#904-008) und 906 Carrera 6 (#906-152) begeistern.
Immerhin hier korrekt: Zur Mille Miglia meldete Ferrari vier Werks-Sportwagen und einen GT.
315S #0684 mit Startnummer „535“ für Piero Taruffi
315S #0674 mit Startnummer „532“ für Wolfgang Graf Berghe von Trips (Wyatt Carnel)
335S #0700 mit Startnummer „534“ für Peter Collins (Jack O’Connell) und Louis Klemantaski (Javier Cornelio Merida)
335S #0646 mit Startnummer „531“ für Olivier Gendebien (Brett Smrz) und seinen Cousin Jacques Washer
250 GT LWB #0677GT; St.nr „417“ für Alfonso de Portago und Edmund Gurner Nelson (Erik Haugen)
Allesamt legendäre Rennfahrer. Und Ferrari degradiert allesamt zu Statisten, wie oben schon erwähnt. Zugunsten der Fokussierung auf den Hauptdarsteller ließ Michael Mann sogar den prächtig ausstaffierten Originalschauplatz der Technischen Abnahme auf der Piazza della Vittoria im Ortszentrum von Brescia als reine Kulisse abhandeln. Da ich dort selbst schon mal alte Rennwagen umherschob, eine unverständliche Entscheidung. Schade um die schöne Location. Immerhin thematisiert der Film korrekt den von Enzo Ferrari angeordneten Fahrerwechsel.
Drei Tage vor dem Rennen entscheidet er, dass de Portago und Edmund Gurner Nelson mit Gendebien und Washer die Autos tauschen: Die Equipe Gendebien / Washer bekommt nun den 250GT LWB mit der Startnummer „417“, während die Equipe de Portago / Nelson den Ferrari 335S mit der Startnummer „531“ zugewiesen bekommt.
Das war dann wohl schon wieder zu viel Realität, denn kurzentschlossen leistet sich der Film erneut fachliche Fauxpas. Im Parc Fermé der Film-Mille Miglia, wie auch auf der Startrampe selbst, fällt der Blick auf eine wunderschöne Reproduktion eines Ferrari 857S mit Startnummer „415“. Such a beauty! Wirklich! Nur leider trat im echten 1957er Rennen gar kein Ferrari 857S an und die Startnummer „415“ wurde an einen Ferrari 250GT Boano vergeben. Einerseits Kinkerlitzchen, andererseits entstand schon wieder ohne Not der (hier vermeidbare) Eindruck von Ungenauigkeit. Nicht ganz leicht zu erkennen, wann der Regisseur diesen Effekt dramaturgisch beabsichtigt und wann nicht… die nebensächliche inszenierte Piazza della Vittoria? Könnte gut sein. Die falschen Wagen? Eher nicht. Das Resultat? Zunehmende Resignation beim Fachpublikum.
Und genau darum geht es eben auch.
So frage ich mich nicht erst seit heute, warum fachbezogene Filme, hier ein motorsporthistorischer, augenscheinlich für sämtliche Zuschauergruppen dieser Welt gedreht werden, außer für jene Fans, die eine fachliche Expertise in dieser Materie haben? Wie die meisten zurückliegenden Filme zu diesem Themenspektrum, laviert auch Ferrari mit einem manchmal sehr offensichtlichen künstlich herbeigeführten Drama am absoluten Minimum des Möglichen herum.
Inhalt-Spoilerwarnung für den Rest dieses Absatzes: Offenbar in Ermangelung einer besseren filmischen Idee, lässt der Regisseur, in einem weiteren Anflug der unnötigen Effekthascherei, seine Hauptdarstellerin doch glatt auf den Hauptdarsteller schießen. Eine wie auch immer geartete Schussabgabe hat aber nie stattgefunden und wirkt in diesem Film unfassbar deplatziert und unangemessen. Eine fürchterlich feige, sowie typisch amerikanische filmische Lösung des Regisseurs, die ausschließlich auf den puren Showeffekt abzielt. So etwas wird hauptsächlich dann gemacht, wenn der Regisseur seinem eigenen Stoff nicht zutraut, anderweitig (vielleicht durch Fakten?) zu unterhalten. Ich vermute hier also Regie-Denkfaulheit.
Und, weil ich mich gerade in Rage schreibe, ein weiteres Beispiel für eine vereinfachende, aber effekthaschende filmische Lösung:
Der Start der einzelnen Fahrzeuge erfolgte damals (im echten Rennen!) im Abstand von jeweils einer Minute… also um 05:31 Uhr die Startnummer „531“, um 05:32 Uhr die Startnummer „532“ usw….! Man konnte seine direkten Gegner also meist nicht sehen, während man selbst versuchte, den kurz vorher gestarteten Wagen einzuholen und sich vom hinter einem gestarteten Wagen nicht einholen zu lassen.
Das folgende ikonographische Foto illustriert sehr schön diese reale Rennsituation.
Es wurde in der echten 1957 Mille Miglia bei über 200km/h geschossen. Der Journalist und Photograph Louis Klemantaski war Beifahrer im Ferrari 335S mit Fahrgestellnummer #0700 von Peter Collins (Startnummer „534“).
Angesichts der meist „unsichtbaren“ direkten Gegner, erstreckten sich die Abstände außerorts dann von einigen Minuten auf bis zu einer halben Stunde. Man geriet in eine latente 1.600 Kilometer dauernde Stresssituation und pushte sich immer weiter, bis über alle Grenzen hinaus. An den Haltepunkten wurden die Fahrer zusätzlich mit meist falschen Informationen über die Gegner angetrieben. Da ist der Film dann wieder genau. Die latente Panik, dass der Gegner hinter einem auftaucht, war Teil des durchaus blutrünstigen Charakters der ursprünglichen Mille Miglia.
Hoffentlich wird dem Leser klar, was für ein unglaubliches Spannungsmoment hier vom Film liegengelassen wurde. Stellt Euch einfach nur mal kurz die panischen Blicke eines Fahrers in den von den Motorvibrationen zitternden Rückspiegel vor, ob er dort den Gegner oder seine Scheinwerfer in der Ferne schon kommen sieht. Erinnert euch an die Panik des Vertreters in seinem Plymouth Valiant im TV-Film Duell (1971/ Steven Spielberg), als er im Innenspiegel sieht, wie der ihn verfolgende Truck immer näherkommt. Oder für die etwas jüngeren Leser: Als ihr auf eurer Playstation 2 im Arcade-Modus des Spiels Gran Turismo in Le Mans gegen euren eigenen „Geist“ aus der vorherigen Runde gefahren seid. Alle wissen um den Stress, welche diese Perspektive erzeugen kann.
Alle, außer Michael Mann. Nichts, aber auch gar nichts hiervon, geschieht im Film Ferrari. Hier fahren die Wagen von Anfang an in einem vollkommen unrealistischen Pulk innerhalb eines Abstandes von ein paar Sekunden, noch dazu in sonderbaren Reihenfolgen… sehr schnell und sehr günstig zu drehen und für die Kamera erneut sehr effektvoll, das Fachpublikum schüttelt hingegen fassungslos den Kopf. Und ja, das störte dann wirklich. Nicht nur, weil wir es in diesem Film mit einem geschichtlich komplett belegten Ereignis zu tun haben, sondern auch, weil das entgangene filmische Potenzial immer offensichtlicher wird.
Und wenn wir schon beim verschenkten Potenzial sind: Es ist nicht zu leugnen, dass die mit der Digitalisierung zu Verfügung stehenden Möglichkeiten, zum Beispiel glaubhaftes CGI, in diesem Film nicht konsequent durchgängig genutzt wurden. Seinerzeit waren während der Mille Miglia die Straßenränder der gesamten 1.600-Kilometer-Distanz von hunderttausenden Menschen gesäumt. In allen Orten, selbst auf dem Land, schlossen die Fabriken früher und Landwirte unterbrachen ihre Arbeit, Schulen gaben ihren Schülern frei, damit sie mit kleinen Fähnchen ihren Idolen zuwinken konnten.
Im Film gibt es diese Zuschauergruppen rudimentär in den Ortsdurchfahrten die dann aber von den Rennwagen hintereinander in unnatürlich engen Abständen von einigen Zehntelsekunden durchfahren werden. Außerorts fährt der Rennwagen-Pulk dann sichtbar unter dem Ausschluss der Öffentlichkeit, dafür aber immer in viel zu engen Abständen. Wenngleich einige dieser Fahrsequenzen durchaus dynamisch inszeniert wurden, erschienen andere Kameraperspektiven während des Rennens inszenatorisch nicht flexibel genug. Dadurch wurde der Erzählflusses etwas beeinträchtigt, dem Rennverlauf fehlte so partiell die Dynamik.
Aber selbst, wenn die Vergangenheit Michael Mann Fakten vor die Füße wirft, heißt es noch nicht, dass er sie auch annimmt. Schon gar nicht in Rom, der kommenden Hauptstadt von „La Dolce Vita“. Geschichtlich belegt ist, dass sich die Schauspielerin Linda Christian (Sarah Gordon) bei de Portagos Zwischenstopp in Rom aus den Zuschauermassen löste und zu seinem Wagen lief. Sie beugte sich zu ihm hinunter, er legte den Kopf zurück und sie küssten sich intensiv, bevor de Portago unter dem Jubel tausender Zuschauer mit brüllendem Motor und durchdrehenden Rädern lange schwarze Striche hinterlassend, davonstürmte. Der absolute Wahnsinn! Die Menschen waren seinerzeit völlig aus dem Häuschen und der Kuss ist als „Il Baccio della Morte“, als „Kiss of Death“ in die Geschichte eingegangen.
Unverständlich ist, dass sich hier ein Unterhaltungsfilm(!) angesichts des Geschenkes eines in der realen Szenerie existierenden Glamours, ebendieser glamourösen Realität entzieht und sich schlicht weigert, dieses dann ja legitime authentische Glamourgefühl zu transportieren. Stattdessen wird die Realität dieser real stattgefundenen Szene ignoriert und zu einem fast beiläufigen Abschiedskuss heruntergedampft und somit bewusst ihres Potenzials beraubt. Ich meine hier langsam ein System zu erkennen: Schon wieder wurden geschichtliche Zusammenhänge einer schneller konstruierbaren, und damit günstiger zu produzierenden, Dramaturgie untergeordnet. Schade, aber vielleicht waren auch das Zeitfenster, das Budget, oder auch der Enthusiasmus für den Dreh zu knapp bemessen, weil der sogenannte Ferrari-Fan Michael Mann dringende Interview-Termine mit dem Esquire und anschließend mit dem Provinzblatt The Wall Street Journal hatte.
Als de Portago im realen Rennen als Viertplatzierter am letzten Stopp in Bologna ankam, sagte der anwesende Enzo Ferrari zu ihm: „De Portago, es ist egal, was du fährst, Gendebien ist auch im schwächeren GT schneller als du!“. Der Film verlagert den sinngemäßen Inhalt dieser Ansage auf den Zeitabschnitt der Fahrerdispositionen vor der Mille Miglia. Das geht aber in Ordnung. Denn wo auch immer de Portago diesen Satz gehört hatte: Ab diesem Zeitpunkt nagte er vermutlich an ihm.
Belegt ist, dass de Portago ab Bologna erheblich auf den vor ihm liegenden Gendebien aufholt, der dritte Platz scheint erreichbar, vielleicht fängt er sogar noch den zweitplatzierten von Trips ein, denn dieser fährt extrem langsam, um dem 51-jährigen Taruffi in seinem letzten Rennen den Sieg zu überlassen.
Die Jagd hatte also begonnen, die Landschaft verwischte und dann passierte es:
35 Kilometer vor dem Ziel in Brescia, auf der fünf Kilometer langen Geraden der Stradale Provinciale 236, auf Höhe des Dorfes Castelgrimaldo, ein paar Kilometer vor der Ortschaft Guidizzolo in der Provinz Mantua, platzte an de Portagos Wagen bei über 250km/h der linke Vorderreifen.
Alfonso De Portago und Edmund Nelson waren nur noch Passagiere. Die anschließende Sequenz ist nichts für schwache Nerven und Michael Mann inszeniert sie brutal direkt, dazu später mehr. Zunächst ist es aber unerlässlich, in den Backstage-Bereich dieser Filmproduktion zu schauen. Denn wenn man einen Film mit historischen Rennwagen dreht, lautet die wichtigste Regel: Die gezeigten Fahrzeuge müssen überzeugend sein! Hierzu kann ich sagen, dass ich im Jahre 2007 bei der Mille Miglia Storico im gleißenden Licht der italienischen Mittagssonne im Stadtkern von Brescia die Gelegenheit hatte, am Rande der Piazza del Duomo (aka Piazza Papa Paolo VI) und von Dutzenden Besuchern fast schon andächtig umringt, das Siegerfahrzeug der letzten originalen Mille Miglia im Jahre 1957 in seiner Gesamtheit und im Detail zu begutachten:
Den originalen Ferrari 315S mit Fahrgestellnummer #0684 und Startnummer „535“. Dieser Wagen stellte den absoluten Peak seiner Zeit dar und das sah man ihm auch an. All seine Alleinstellungsmerkmale (Sieger der letzten originalen Mille Miglia!) Seltenheit! (Der Einzige, der in seiner ursprünglichen Konfiguration existiert!), Technische Brillianz (Die letzte Ausbaustufe des Lampredi 4-Nockenwellen V12 Motors, gebaut für Geschwindigkeiten jenseits von 300km/h auf staubigen, unbefestigten Landstraßen!) mal beiseitegeschoben: Kaum ein Ferrari war gleichermaßen ästhetisch, wohlproportioniert UND ultrabrutal, ganz großes Kino. Und ja, Andächtigkeit war angesichts der von Sergio Scaglietti per Hand in das Blech gedengelten Kurvenradien schon irgendwie angemessen.
Und jetzt die schlechte Nachricht für alle Kaufinteressenten:
Noch im Jahre 2007 repräsentierte der 315S #0684 mit all seinem Nimbus schon einen Wert von knapp 40 Millionen Dollar. Wahrscheinlich sogar plus X. Wie es 17 Jahre später um den Wert bestellt sein mag, kann man daher nur vermuten.
Das Originalfahrzeug fiel für die Filmproduktion also aus verständlichen Gründen aus, immerhin hätte alleine die Versicherungssumme einen guten Teil des zur Verfügung stehenden Filmbudgets von 95 Millionen Dollar aufgefressen. Ganz abgesehen davon, dass man dann nur einen Wagen hätte. Wenn man also „aus Gründen“ keinen Zugriff auf jene Originalfahrzeuge hat, die für die Glaubwürdigkeit dieses Filmstoffes aber notwendig sind, was tun?
Hier hatte die Produktion tatsächlich ein glückliches Händchen und vertraute auf die überragenden handwerklichen und überaus kunstfertigen Fähigkeiten der Blechbildhauer der familiengeführten Modenesener Karosserie- und Restaurationsfirma Carozzeria Campana Onorio S.r.l.. Ihnen war es überlassen, die Karosserien der benötigten 315S-, 335S-, 250GT LWB-, 801F1- und Maserati 350S/450S zu bauen und ihre Proportionen zu treffen. Hierfür scannte man einige Originalfahrzeuge ein (wahrscheinlich 315S #0684, 335S #0700 und einen mir unbekannten Maserati 350S/450S) und das Ergebnis ist… hm… überraschend gelungen.
Ein Team von zwölf Mitarbeitern erschuf in nur 22 Wochen neun voll funktionsfähige Fahrzeuge. Und sie leisteten unter den erschwerten Bedingungen wirklich überzeugende Blecharbeit… Moment, erschwerte Bedingungen? So ist es. Bezog man 1957 natürlich Rohrrahmen-Fahrgestelle von Gilco Autotelaio in Mailand, basierten die gezeigten Filmfahrzeuge, inklusive der Maserati 350S und 450S-Nachbauten, auf gebrauchten englischen Caterham 620 Fahrgestellen, die mit 2 Liter Ford Duratec 4-Zylinder Turbomotoren ausgestattet waren. Regenaufnahmen waren problematisch, weil keines der Filmfahrzeuge eine funktionsfähige Drainage hatte, sowie Sitzbezüge aus Textil. In diesem Zusammenhang: Hut ab vor der Regenszene mit dem gelben 335S, der König Hussein-Wagen.
Fun-Fact: Da zum Zeitpunkt „König Hussein“-Drehs eigentlich kein gelber Wagen verfügbar war, hatte man hastig jenes rote Filmfahrzeug gelb foliert, welches die Startnummer „535“ trug und die Szene in sechs Stunden abgedreht. Als man die Folie wieder abzog, löste sich stellenweise auch die rote Farbe ab, weil diese zum Zeitpunkt der Folierung noch gar nicht durchgetrocknet war. Eine herrliche Produktions-Anekdote. Schwieriger gestaltete sich da der Nachbau des Ferrari 801 F1. Da keiner der sechs ursprünglich gebauten originalen Ferrari Tipo 801 Formel 1-Rennwagen mehr existierte, wurden die Aluminiumkarosserien der Filmfahrzeuge von einem auf einem Flohmarkt gefunden Ferrari 801-Spielzeugmodell(!) hochskaliert. In nur 15 Tagen(!) entstandenen auf etwas kleineren und ebenfalls gebrauchten Caterham 420R Fahrgestellen, zwei 801 F1 Fahrzeuge mit Motoren ohne Turbolader. Denn für die war in den kleineren Fahrgestellen kein Platz mehr.
Und natürlich durften auch jene, in die Karosserien hineinkonstruierten, zusätzlichen Tragpunkte und Halterungen für die Kamerasysteme nicht vergessen werden. All diese Umstände hatten abweichende Dimensionen und leichte Verschiebungen der Proportionen zu den Originalfahrzeugen zur Folge. Etwas, was man schon unter einer „erschwerten Bedingung“ verstehen könnte. Natürlich könnten Ferrari-Experten anführen, dass die Filmwagen identische Kühlergrillöffnungen haben, während sie bei den Originalfahrzeigen von Wagen zu Wagen leicht differierten, aber geschenkt. Oder dass die Filmfahrzeuge bauartbedingt an der Hinterachse eine etwas zu breite Spur hatten, ist auch geschenkt.
Der entscheidende Punkt ist: Weil die grundsätzlichen Proportionen und Kurvenradien einer 315S/335S Karosserie sehr gut getroffen wurden, kann ich sagen, dass all diese Unterschiede beim Schauen von Ferrari nicht nennenswert ins Gewicht fallen. Selbst ich war nach kurzer Zeit von den Fahrzeugen überzeugt. Der wirkliche Kern des Filmes sind aber nicht die Automobile, ja, nicht einmal Enzo Ferrari selbst oder seine Frauen.
Es ist eine kleine Familie, die in einem kleinen Haus an der Stradale Provinciale 236 wohnt.
Zur Inszenierung ihrer kleinen Geschichte wurde Michael Mann bei einem Besuch der Unfallstelle bei Castelgrimaldo, in der Nähe Guidizzolos, angeregt. Bei der Besichtigung der Unfallstelle kam ein älterer Herr mit Stock hinzu und fragte, was sie dort machen würden. Als Michael Mann es erklärte, erzählte er: „Ich war dabei. Wir hörten das erste Auto durchfahren. Mein älterer Bruder, der damals neun Jahre alt war, ist aus dem Haus gerannt… ich war drei und rannte hinter ihm her, aber ich war langsamer. Mein Bruder kam bis an den Straßenrand… wo er unmittelbar getötet wurde. Ich musste den ganzen Unfall mitansehen!“.
„ … “
Seit 35 Jahren lese ich nun alle verfügbaren Geschichten zu diesem Unfall am 12. Mai 1957, seinen Ursachen und seinen Umständen, las Polizeiberichte, Gutachten und Stellungnahmen, sammelte Informationen. Ich sah Bilder des Wracks und analysierte sie, versuchte, mir ein Bild der Opfer, der neun Zuschauer, darunter fünf Kinder, zu machen. 67 Jahre nachdem dieser Unfall geschah, hat ein Regisseur diesen Unfall und seine Umstände mit filmischen Mitteln jetzt inszeniert und dadurch bildlich greifbar gemacht. Das Ergebnis war ein Schock. Und die Erkenntnis dessen, ist tatsächlich nochmal ein eigener Schock für sich. Dieser Schock darf allerdings nicht über die publizierten Promo-Nebelkerzen hinwegtäuschen.
„Ferrari is the best movie ever made!“ – (?)
Angesichts der nahezu perfekten Authentizität von Steve McQueens Meisterwerk Le Mans (1971), oder auch der nahbaren Perfektion von Le Mans ’66 – Gegen jede Chance aka Ford vs. Ferrari (2019/ James Mangold), eine viel zu gewagte Aussage. Und das wären nur Rennwagenfilme. Bei Straßen-Modellen wäre u.a. Diamantenlady von 1973 mal eine echte Empfehlung.
Ob er „One of the best Racing Movies ever“ ist, wird die Zukunft zeigen. Anzunehmen ist aber, dass Ferrari sehr wahrscheinlich besser altern wird als so manches andere sogenannte Motorsport-Biopic.
Etwas macht jedoch fassungslos: Dieser Film bewegt sich in nahezu sich allen historischen Teilbereichen im Ungefähren, außer in die Darstellung einer der schlimmsten Katastrophen des Motorsports, ausgerechnet. Hier wird er plötzlich extrem präzise und detailliert.
Wenn man aber einen kommerziellen Film dreht, der seinen wahrhaftigsten Moment in der schonungslosen Darstellung einer real stattgefunden Tragödie findet und sich für die schrecklichen Details ausgerechnet bei einem beteiligten Anwohner „inspirieren“ ließ, dann ist davon auszugehen, dass diese Szene eben nicht nur in das Herz des Zuschauers trifft, sondern auch in das Herz der noch lebenden Angehörigen und Zeugen. Sie befinden sich nun in der Situation, bewegte Bilder für den größten Horror ihres Lebens nachgeliefert bekommen zu haben, Chapeau Mr. Mann, für diese Leistung.
Künstlerische Freiheit? Ganz sicher, aber ich werfe dem Regisseur vor, das Ansehen der Opfer aus kommerziellen Gründen für einen selbstzweckhaften Effekt missbraucht zu haben. Und zwar aus einem einzigen Grund: Wenn es dramaturgisch nicht vermeidbar war, wäre es da nicht das Mindeste, der Opfer dieser Tragödie wenigstens im Abspann zu gedenken und sie nicht erneut ihrer Würde zu berauben? Genau das hat der Regisseur aber unverständlicherweise nicht getan, und das kompromittiert m.E. mindestens seine Reputation, zu mindestens aber sein Anliegen bezüglich des Films.
Aber woher sollte ein Petrolhead schon wissen, was sich gehört.
Die Kinder:
Anita Boscaini (10 Jahre, aus Guidizzolo), Giovanni Conzato (8 Jahre, aus Cavriana),
Virginia Rigon (9 Jahre, aus Castelgrimaldo), Valentino Rigon, (6 Jahre, aus Castelgrimaldo), Carmen Tarchini (10 Jahre, aus Guidizzolo).
Die Erwachsenen:
Angelo Dobelli (48 Jahre, aus Guidizzolo), Silvestro Franzini (27 oder 30 Jahre, aus Volta Mantovana), Pietro Grandelli (52 Jahre, aus Cavriana) Romeo Stancari (50 oder 52 Jahre, aus Guidizzolo).
Die Fahrer:
Alfonso de Portago, (28 Jahre, aus Paris), Edmund Gurner Nelson (40 Jahre, aus Paris)
Ferrari hat eine durchweg tolle Ausstattung und vermag dennoch nicht in Gänze zu überzeugen, sei es nun die Story-Entwicklung, die schablonenhaft uninspirierte Regiearbeit oder ungeklärte Fragen bezüglich der Ethik. Zusätzlich ist er eine schallende Ohrfeige für alle, die an der korrekten Darstellung belegter historischer motorsportlicher Vorgänge interessiert sind. Eine Ohrfeige insbesondere deshalb, weil die Realität der Vorgeschichte der Mille Miglia dieses einen Jahres aus sich heraus letztlich spannend genug gewesen wäre. Jede weitere Dramatisierung, jede Effekthascherei, jede Verkürzung, jeder Ausflug in eine melodramatische Soap, wäre unnötig gewesen. Und natürlich ist der Film wegen der schockierenden Darstellung des Unfalls auch eine Ohrfeige für jene ZuschauerInnen, welche auch die (motorsportliche) Vergangenheit durch eine rosarote Brille betrachten.
Eine Wahrheit ist: Alle hatten sich Enzo Ferrari unterzuordnen, seine still leidenden Frauen, seine Kinder, alle seine Fahrer, selbst die Zuschauer, sind nur Kollateralschäden seiner Leidenschaft, seines Egoismus, auf dem Weg zur eigenen Unsterblichkeit. Die Filmhandlung dechiffriert letztlich jenen Ausruf, zu welchem sich Papst Pius XII. angesichts der „Hölle von Giudizzolo“ hinreißen ließ: „Er (Enzo Ferrari/ ed.) ist ein grausiger Saturn, der seine Kinder bei lebendigem Leib verschlingt!“.
All diese charakterlichen Unzulänglichkeiten waren der Stoff, aus dem die Ferrari-Legende entstand.
Für wen ist dieser Film also geeignet?
Sicherlich für den durchschnittlich unterhaltungswilligen Konsumenten, dem die geschichtlichen Ungenauigkeiten und Verkürzungen mangels tieferen Interesses an der Materie nicht weiter auffallen werden. Jenen Zuschauern allerdings, die über ein geschütteltes Maß an motorsporthistorischer Expertise verfügen, werden an Ferrari möglicherweise etwas weniger „Spaß“ haben, aber sie werden sich schnell auf die (wirklich gelungenen) automobilen Schauwerte und den Vergleich mit der Realität konzentrieren.
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