Ende der 1970er, Anfang der 1980er machten sich ein paar neue, junge Filmemacher daran, das kantonesische Kino auf einen neuen Level zu heben. In Hongkong aufgewachsen und an westlichen Filmhochschulen ausgebildet, formierte sich ein frisches Nachwuchskino mit einer neuen und kreativen Filmsprache, dass sich deutlich vom alten Golden Harvest Technicolor-Kung Fu Kino absetzen sollte. Alex Cheung definierte mit seinen Filmen Cops and Robbers (1979) und Mann ohne Ausweg (1981) eine zeitlose Blaupause für den Hongkong-Action-Krimi, während Tsui Hark mit The Butterfly Murders (Die Todesgrotten der Shaolin, 1979) das folkloristische Kung-Fu-Kino mit einer flotten Filmsprache, ungewohnter Düsterheit und neuen Tricks revolutionierte. Ann Hui fand mit dem Horrorkrimi The Secret (1979) einen neuen Ansatz der filmischen Erzählung und eröffnete dem heimischen Publikum eine westliche Inszenierung für Kinofilme. So kam es dann auch, dass Ann Hui, bewegt durch persönliche Erlebnisse mit Flüchtlingen aus Vietnam, die 1979 in Massen nach Hongkong strömten, sich erst dokumentarisch mit dem Thema der Flüchtlinge auseinandersetzte, um abschließend die Erlebnisse zu einem großen Spielfilm zusammenzufassen und damit, ganz zufällig und nebenher, einen der besten kantonesischen Spielfilme überhaupt zu drehen. Ann Huis Film, der auf verschiedenen Berichten von Geflüchteten beruht, ist – bis heute – mit Abstand einer der wichtigsten HK-Filme überhaupt, formal wie inhaltlich, und spielt in der gleichen Liga wie Roland Joffés Drama The Killing Fields (1984). CARGO RECORDS / IMPERIAL PICTURES brachten den Film schon vor einigen Monden auf Blu-ray heraus.

Originaltitel: Tou Bun No Hoi

Regie: Ann Hui

Darsteller: George Lam, Andy Lau, Season Ma, Meiying Jia

Artikel von Kai Kinnert

Ein japanischer Fotoreporter kehrt drei Jahre nach Beendigung des Vietnamkrieges an seine alte Wirkungsstätte zurück und gewinnt den Eindruck, dass die Bewohner des Landes unter der neuen Regierung glücklich und zufrieden sind. Allmählich dämmert ihm jedoch, dass er mit einer propagandistischen Scheinidylle konfrontiert wird.

Boat People ist der dritte und abschließende Teil aus Ann Huis Vietnam-Trilogie, die sich mit den Schicksalen der Flüchtlinge auseinandersetzt. Den Anfang machte Boy from Vietnam (1978), gefolgt von The Story of Woo Viet (1981), mit einem jungen Chow Yun Fat in der Hauptrolle, der eigentlich auch in Boat People mitspielen sollte, da Ann Hui die Rolle Chow Yun Fats als durchgehendes Erzählelement beibehalten wollte. Doch dazu kam es nicht, denn Fat lehnte die Rolle aus Angst vor einem Berufsverbot in Taiwan ab. Boat People war zwar der erste kantonesische Film, der auf chinesischem Festland gedreht worden ist, jedoch durften damals Schauspieler, die auf chinesischem Grund und Boden arbeiteten, nicht mehr in Taiwan auftreten. Also ging die Rolle an Andy Lau, der so als Jungspund zu seiner ersten Rolle in einem Kinofilm kam und gleich sein Potential gekonnt unter Beweis stellen durfte. Hier sieht man den zukünftigen Superstar Hongkongs ganz am Anfang seiner Karriere!

Doch das nur am Rande, denn Ann Huis Film wird nicht durch künftige Stars bestimmt, sondern durch die packende und ruhig erzählte Geschichte, die den Zuschauer nicht unberührt lassen wird. Als der Fotoreporter drei Jahre nach Beendigung des Krieges zurück nach Vietnam kehrt, bekommt er einen Regierungsaufpasser an seine Seite gestellt und trifft in der „neuen Wirtschaftszone“ auf lauter glückliche Menschen. Doch die Fassade beginnt zu bröckeln, je länger er in Danang bleibt. Erst wird der Fotograf Zeuge eines Feuers mit tödlichem Ausgang (was ihm Prügel einhandeln wird), dann sieht er, wie die Polizei einen „Reaktionär“ schwerst Zusammenschlagen und trifft später auf eine Familie, die gezwungen wurde, alsbald in die „neue Wirtschaftszone“ umzuziehen. Die Familie hat große Angst vor dem Umzug und der Fotograf fragt sich, warum das wohl so ist. Die Menschen waren doch alle glücklich dort – oder etwas nicht? So trifft er auf die 14jährige Cam Nuong und ihre zwei Brüder, die allesamt bei ihrer Mutter leben, welche als Prostituierte arbeitet, um ihre Kinder versorgen zu können. Zwischen Cam Nuong und dem Fotografen entwickelt sich eine Freundschaft, er lernt so die Familie näher kennen und erfährt dabei immer mehr grausige Details aus dem Alltag der Menschen in Danang. So begleitet er die Geschwister dabei, wie sie in einem Hinterhof, genannt die „Hühnerfarm“, frische erschossene Menschen auf Wertsachen durchsuchen oder auf einer Müllhalde nach Brauchbarem suchen und dabei auf nicht explodierte Handgranaten stoßen.

Der Fotograf lernt dann über Umwege auch To Minh (Andy Lau) kennen, der gezwungen wird, mit seinem Freund Thanh als Entschärfer auf Minenfeldern zu arbeiten und die Flucht per Schiff plant. Das der Fotograf immer mehr Einblick in den Alltag der Menschen und hinter das Geheimnis der „neuen Wirtschaftszone“ kommt, entgeht auch nicht den Politoffizieren, die den Fotografen zunehmend als unerwünscht wahrnehmen und auch sein Leben subtil bedrohen. Es wird Zeit, dass alle das Land verlassen.

Die große Stärke des Films ist die Ruhe der schleichenden Bedrohung, die sich nach und nach spürbar und unangenehm in die Erzählung schiebt. Ann Hui macht ihre Figuren nahbar und zieht durch ein ausgewogenes Erzähltempo, grandiosen Kameraeinstellungen und ein famos aufspielendes Ensemble den Betrachter zunehmend tiefer in die Story hinein. Man wird Teil dieser Freundschaft, die der Fotograf mit Cam Nuong aufbaut und reagiert schockiert auf die plötzlichen Einbrüche von Gewalt in der Story. Die Gewalt in Boat People ist jenseits des Selbstzwecks und wurde so hinterhältig und hammerhart in den Film eingefügt, dass man eiskalt überrascht wird und geschockt reagiert. Nichts in dem Film deutet darauf hin, dass es plötzlich zu so einem Ausbruch kommen könnte. Der Film verbirgt das Gewaltpotential seiner Story unter seiner ruhigen und nahbaren Inszenierung – und erwischt einen dafür umso härter. Sekunden eines Alptraums, ohne Effekthascherei inszeniert und nie länger als nötig gezeigt, trifft einen das Gesehene wie ein Fausthieb in den Magen. Sobald man begriffen hat, was man als da gerade gesehen hat, ist es auch schon wieder vorbei und man sitzt mit Beklemmung vor dem TV-Gerät und wünscht den Protagonisten nichts sehnlicher, als das ihnen die Flucht gelingen möge. Ein Land des Alptraums.

Boat People hat mich knochenhart erwischt. Namentlich kannte ich den Film, gesehen hatte ich ihn jedoch noch nie. Eigentlich wollte ich nur mal nächtens in den Film reinschauen, eine ganze Sichtung hatte ich gar nicht vorgehabt – und konnte mich dann nicht mehr davon lösen. Ann Hui inszeniert so gut und durchdacht, dass man als Zuschauer bedingungslos in die Story mit hineingezogen wird und den Film unbedingt bis zum Ende ansehen muss. Schauspiel, Kameraführung und Inszenierung sind die eines Film von Weltformat. Boat People ist ein Film mit Substanz, ganz großes Kino und bis heute berührend. Ann Hui ist ein Meisterwerk gelungen.

Dass Bild der gesichteten Blu-ray ist gut, sauber und klar, der Ton ist gut. Als Extras gibt es Trailer.

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