Ehrlich gesagt stand ich diesem Release – vertrieben von SHOCK ENTERTAINMENT – sehr skeptisch gegenüber. Filme, die mit dem Attribut „der brutalste Film, der jemals gemacht wurde“ etikettiert sind, versuchen meist mit einem Aufgebot sinnloser Gewalt zu blenden und sinnlose Gewalt ist meine Sache nicht. Warum sollte ich mir so etwas angucken? Da es sich hier aber um eine mexikanische Guerilla-Produktion handelt und südamerikanische Horrofilme wie Il Morire Sola oder La Casa Muda (später von den Amerikanern als The Silent House adaptiert) mit einem gewissen Einfallsreichtum sowie einer schönen existentiellen Drastik zu glänzen verstehen (was nicht zuletzt auch an den häufig sehr begrenzten finanziellen Mitteln liegt), habe ich mich Angst und Bange diesem Werk geöffnet und wurde positiv überrascht.

Regie: Lex Ortega

Darsteller: David Aboussafy, Abigail Bonilla, Ricardo Brito, Aleyda Gallardo

Artikel von Philipp Locher

In Mexiko-Stadt geschieht ein Autounfall. Die Fahrerin stirbt. Erst einmal nichts Ungewöhnliches in einer Stadt in der dergleichen täglich hunderte, vielleicht tausende Male passiert. Als der ermittelnde Kommissar eintrifft, findet er (neben einer Waffe, die er natürlich gleich einsteckt) eine High8-Kamera in deren Material er gleich einen sporadischen Blick wirft. Die beiden jungen Männer, die sich noch auf der Rückbank des Wagens befinden werden verhaftet.

An sich ist es das auch schon. Das Konzept. Ganz nüchtern betrachtet wird hier ein Found-Footage-Episodenfilm in etablierter V/H/S-Manier mit Rahmenhandlung aufgeblättert. Dessen erste Episode war ursprünglich ein Kurzfilm, der es dann auch so in den ersten Feature-Film des Regisseurs Lex Ortega geschafft hat. Dieser ist eigentlich Sound-Designer und war für Produktionen wie City Of God, 21 Gramm, Here Comes The Devil oder Frankensteins Army tätig.

Was man zu sehen bekommt ist auf eine Weise düster, unschön, grausam und dermaßen von aus identitärer Schwäche gespeistem Hass erfüllt, dass ich nicht anders konnte, als intuitiv bodenloses Mitleid mit den Tätern zu empfinden. Figuren, die es nötig haben auf diese Art und Weise zu handeln, können im Inneren nur zutiefst zerrüttet sein. Und wie sich bald herausstellt ist dem auch genauso.

Was der Film kann, ist, eine tiefsitzende Respektlosigkeit gegenüber einer in Trümmern liegenden Menschlichkeit drastisch mit Gewalt zu bebildern, die gerade in Südamerika vor dem Hintergrund extremer Armut und organisierter Drogenkriminalität täglich gegenwärtig ist. Die Produzentin Abigail Bonilla sagt dazu im Interview: „Es ist total normal zu hören, dass jemand in der Nachbarschaft entführt oder ermordet wurde. Wir leben in einem hoffnungslosen Kontext mit unrealistischen Möglichkeiten und einem Mangel an Jobs. Wir haben eine Narco-Kultur, die uns viele Räume verschließt.“

Aber das ist nur die thematische Klammer. Im Kern geht es stark um sexuelle Identität konterkariert durch emotionalen wie körperlichen Missbrauch. Das erste Opfer ist ein Transfrau, das zweite eine Prostituierte, das dritte der Täter selbst. Ganz stark steht ein Nicht-Angenommen-Werden im Vordergrund, ein bodenloses Verloren-Sein, gesellschaftlich wie familiär. Dem entsprechend spielt das Einverleiben des Gegenübers und dessen Andersartigkeit immer wieder schonungslos eine Rolle, das Empfinden von Lust geht nur mit einer erzwungenen Atemlosigkeit einher. Und natürlich ist die In-Fragestellung von Existenz und Identität durch Körper und deren Dekonstruktion ein Element von Bedeutung. Sprich: Es wird ohne Rücksicht auf Verluste geschnitten, geschlagen, gesabbert, gestochen, gekotzt, geschissen, amputiert und geblutet. So viel sei verraten. Ganz viel Wut ist hier im Spiel. Wut auf die gesellschaftlichen Verhältnisse, auch Wut auf Autoritäten. Die Gewalt im Großen spiegelt sich in der Gewalt im Kleinen. Vor langer Zeit sah ich ein Interview mit einem Mitglied eines mexikanischen Drogenkartells – das kam mir immer wieder in den Sinn während der Sichtung. Dieser maskierte Mann beschrieb genau diese Gewalt. Die Gewalt wie sie in diesem Film stattfindet. Die ist real, dachte ich. Die gibt es wirklich. Nicht nur gesellschaftlich, auch familiär. Das ist es, was den Film so furchtbar macht. Nicht die Darstellung der Gewalt lässt einen sprachlos zurück, sondern das Wissen darum, dass sie real ist. Regisseur Lex Ortega, der auch die Hauptrolle spielt, sagt dazu: „Ich wollte die Familie als verrottete Institution porträtieren. Unglücklicherweise passiert das nicht nur in meinem Land. Es gibt eine Menge Verbrechen aus Hass auf der ganzen Welt und ich wollte kritisieren, dass die staatlichen Institutionen, die dazu da sind uns als Gesellschaft zu schützen, dem nicht gerecht werden und lieber ihre eigenen Interessen verfolgen.“ Und so ist es auch im Film: Dem ermittelnden Kommissar ist im Grunde egal, was passiert.

Mit einem Budget von 7000 US-Dollar, generiert durch Crowdfunding, wurde hier ziemlich viel erreicht. Ein Großteil des Budgets dürfte in das Special-Effects-Make-Up geflossen sein, das überaus eindrucksvoll ist. Der Look ist, wie bei einem Found-Footage-Film zu erwarten, sehr grob. Da es sich beim Ausgangsmaterial um High8-Bänder halten soll, sind die Bilder relativ schwammig. Generell ist zu sagen, dass es immer wieder erstaunlich ist mit wie wenig Mitteln ein sehr vernünftiger Underground-Film gestemmt werden kann. Gerade was die Ausleuchtung angeht, wurde hier nicht viel gestaltet, was gemacht wurde ist aber absolut ausreichend. Vielleicht war auch das ein Grund, sich für das Found-Footage-Genre zu entscheiden. Leider gibt es bei dem vorliegenden Release keinerlei Untertitel. Es ist also nur möglich den Film auf Spanisch oder in der deutschen Synchronfassung zu sehen, die leider extrem miserabel ist. Dabei hätte ich den Film gern auch im spanischen Original mit Untertiteln gesehen. Als Extras bekommt man einen englischen Audiokommentar vom Regisseur, den ursprünglichen Kurzfilm, das Crowdfunding-Video, ein Practical-FX-Featurette sowie ein Production-Featurette.

Der mexikanische Genrebeitrag Atroz (was so viel wie grauenhaft, grausam, abscheulich bedeutet und damit allein schon als Kommentar auf den Film zu verstehen ist) ist ein Brett aus Wut und Verzweiflung und definitiv etwas für Fortgeschrittene. Horror zeigt hier, was er kann: unbequeme Dinge nach oben spülen, bis zur Schmerzgrenze zuspitzen und ausreizen und dabei in einen produktiven inneren Dialog treten. Muss das sein? Darf man das? Und wenn ja: Warum? Was bleibt ist weniger die dargestellte Gewalt, sondern eine Ohnmacht ob derer Unabänderlichkeit. Dem Wissen, dass sie wirklich existiert. Und warum.

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