Wie komplex ist das Thema des sexuellen Kindesmissbrauchs? Sehr komplex, manchmal gar nicht richtig erkennbar. Dokumentarfilmerin Jennifer Fox verarbeitet in ihrem Spielfilmdebüt THE TALE – DIE ERINNERUNG (2018) eigene, bedrückende Erlebnisse, die nicht nur das heikle Thema erörtern, sondern auch präventiv für Menschen fungieren, um Missbrauch zu erkennen. Capelight Pictures veröffentlichte nun dieses wichtige, wie auch ergreifende Selbstportrait für das Heimkino. Ein Film, den man gesehen haben sollte!

Originaltitel: The Tale

Drehbuch & Regie: Jennifer Fox

Darsteller: Laura Dern, Isabelle Nélisse, Elizabeth Debicki, Ellen Burstyn, Common, Jason Ritter, Frances Conroy, John Heard…

Artikel von Christopher Feldmann

Bevor ich die Blu-Ray, die uns CAPELIGHT PICTURES freundlicherweise zur Verfügung gestellt hat, in den Player legte, wusste ich in keinster Weise, welcher Film mich hier erwarten würde. Ich habe eigentlich mit einem klassisch seichten Drama gerechnet, welches mir Kollege Jürs aufgebrummt hat, da er mir das Rezensionsexemplar zu BRAWL IN CELL BLOCK 99 (2017) abtreten musste. Manchmal hat man eben Glück, denn ich hätte mich gegrämt, wenn ich dieses kleine, berührende Meisterwerk nicht gesehen hätte. THE TALE (2018) erzählt eine unglaublich einfühlsame, teils schockierende Geschichte, die dieses Mal wirklich auf wahren Begebenheiten basiert. Regisseurin Jennifer Fox, die zuvor lediglich Dokumentationen gedreht hat, erzählt nämlich ihre eigene Geschichte in allen aufwühlenden Einzelheiten, von denen sie erst in ihren Vierzigern so richtig erfahren hat. An dieser Stelle, bevor ich mit meiner Rezension beginne, möchte ich schon mal Jedem diesen Film ans Herz legen, ja ich möchte sogar behaupten, dass man ihn in Schulen zeigen sollte. Warum? Ich werde es euch verraten!

Handlung:
Jennifer Fox (Laura Dern) kann sich eigentlich nicht beklagen. Die 48-jährige ist glücklich mit dem liebevollen Fotografen Martin (Common) verlobt und arbeitet erfolgreich als Dokumentarfilmerin, Journalistin und Professorin in New York. Ihr Leben gerät ins Wanken, als sie einen Anruf ihrer aufgeregten Mutter Nettie (Ellen Burstyn) erhält, die sie mit einer alten Geschichte für den Englischunterricht konfrontiert, die Jennifer als 13-jährige verfasst hat. In dieser Geschichte schildert sie die Beziehung zu zwei „besonderen Personen“, auf deren Pferdefarm Jennifer einst die Sommerferien verbrachte. Während Jennifer sich nur noch vage an eine alte Liebesbeziehung zu einem älteren Mann erinnern kann, ist ihre Mutter davon überzeugt, dass sie als Kind sexuell missbraucht wurde. Jennifer beginnt in die Vergangenheit einzutauchen und ihren Erinnerungen auf den Grund zu gehen, und macht dabei eine schockierende Entdeckung.

Die Produktion von THE TALE war nicht wirklich einfach, denn nach mehrjähriger Arbeit am Drehbuch wollte niemand den Film finanzieren. Es begann eine lange Suche nach Investoren, da die Meisten sich dagegen sträubten, in ein Projekt zu investieren, in dem eine Szene den Geschlechtsverkehr mit einer Minderjährigen zeigen sollte. Durch Fox‘ eigenes Netzwerk aus Produzenten, Geldgebern, Unternehmern und Künstlern, konnte das Drama schließlich realisiert werden, den Vertrieb übernahm der Sender HBO.

Man merkt durchaus, dass THE TALE ein recht schmaler Film geworden ist, der keine großen Bilder zu bieten hat. Aber man von Glück reden, dass er überhaupt gedreht wurde. Die Geschichte über Fox‘ eigene Erlebnisse erzählt keine klassische „Ich wurde vergewaltigt und muss jetzt damit klar kommen“-Story, wie man sie aus gefühlt hundert anderen Dramen kennt. Die Regisseurin geht einen gänzlich anderen Weg und stilisiert sich selbst nicht als Opfer, sondern als Überlebende. In mühevolle Kleinarbeit wird geschildert, wie der Missbrauch begann, wie er sich anfühlte und mit welcher Hinterhältigkeit der Täter vorging, um Einvernehmlichkeit zu suggerieren. Missbrauch ist nicht nur einfach eine klassische Vergewaltigung, wie man sich das jetzt vorstellen würde. Missbrauch beginnt oft bei der eigenen Wahrnehmung, denn Menschen, in diesem Fall Kinder, wurden missbraucht, ohne dass es ihnen wirklich bewusst war. Auch Jennifer war es nicht bewusst, denn sie glaubte bis zuletzt, dass es sich um eine einvernehmliche Liebesbeziehung handelte. THE TALE beschreibt die Gefühlswelt eines kleinen Mädchens, die inmitten einer großen Familie nach Anerkennung sucht und geliebt werden möchte. Ein Umstand, den sich der, oder auch die, Täter zu Nutzen machten. Die Geschichte wirkt unfassbar authentisch, da sie von den eigenen Gefühlen der Autorin lebt. Die Dialoge wirken weder aufgesetzt, noch wirklich gespielt, man hat durchweg das Gefühl etwas Echtes zu sehen, dass dem Zuschauer von den Darstellern nur verdeutlicht wird.

Die sind nämlich die große Stärke des Films. Laura Dern ist eigentlich immer toll und wertet jede Produktion auf, aber hier spielt sie außergewöhnlich. Ich sehe sie immer gerne aber hier liefert sie eine Bestleistung ab. Als Missbrauchsopfer, die erst spät erkennt, dass sie missbraucht wurde, glänzt sie mit einer tollen Natürlichkeit und einem authentischen Spiel. Zu jeder Zeit klebt man an ihrer Figur und ist bereit, diese emotionale Reise mit ihr anzutreten. Auch die restliche Besetzung weiß zu überzeugen. Da der Film oft in der Vergangenheit spielt, teilen sich immer gleich zwei profilierte Darsteller eine Rolle. Laura Derns jüngere Version wird eindrucksvoll von Isabelle Nélisse verkörpert, die ihre schwere Rolle mit Bravour meistert. Auch Elisabeth Debicki besitzt eine große Anziehungskraft als Reitlehrerin. Ziemlich beeindruckend ist Jason Ritter, der in der Vergangenheit keine sonderlich große Karriere gemacht hat. Als pädophiler Lauftrainer spielt er die schwierigen Szenen hervorragend und bestätigt Fox‘ Wunsch, einen Schauspieler zu casten, der nicht wie ein klassischer Triebtäter aussieht, sondern glaubhaft einen Mann verkörpern kann, in den sich eine 13-jährige verlieben könnte. Sein älteres Ich wird in einer Szene am Schluss von John Heard verkörpert, der hier seine letzte Rolle verkörpert, bevor er im Juli 2017 an einem Herzinfarkt starb.

Jennifer Fox‘ Tätigkeit als Regisseurin von Dokumentionen macht sich in THE TALE äußerst bemerkbar. Das soll keine Kritik sein, denn dieser Stil passt perfekt zum Ton des Films. Mit ruhigen Bildern nimmt sie den Zuschauer mit auf eine Reise zu verschiedenen Stationen in ihrem Leben, bei denen verschiedene Eindrücke und Erkenntnisse gesammelt werden, so dass am Ende ein aufwühlendes Gesamtbild erkennbar wird. Immer wieder lässt Fox Gegenwart und Vergangenheit verschmelzen, in der sie quasi, durch die Schauspieler, ihr jüngeres Ich interviewt und ihre eigenen Gefühle ergründet. Das ergibt ein klares Bild von der Denkweise eines Mädchens, dass manipuliert wurde. Genau das ist auch die Agenda von THE TALE. Der Film glorifiziert nicht das Opfer, es geht auch nicht darum späte Rache zu üben, sondern darum Missbrauch zu verstehen, auch wenn er auf den ersten Blick nicht erkennbar ist. Missbrauch kann überall stattfinden, auch unter der eigenen Nase, in der Familie, im Freundes- oder Bekanntenkreis. Mit diesem Film wurde ein wichtiger Film geschaffen, der das Bewusstsein stärkt und Erkenntnisse bringt, sowie einen Lerneffekt birgt.

Fazit:
THE TALE – DIE ERINNERUNG (2018) ist wichtig, sehr wichtig sogar. Ein großartig einfühlsames Selbstportrait mit wichtiger Botschaft, welches Standardmaterial an Schulen sein sollte. Eine bedrückendes und gleichzeitig auch aufrüttelndes Drama, großartig in Szene gesetzt und authentisch besetzt. Ich kann für diesen Film nur eine dicke Empfehlung aussprechen. Seht ihn euch an und lernt etwas daraus, denn man weiß nie, ob man mit solch schlimmen Geschehnissen jemals zu tun hat.

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