Richard Linklater ist einer der ganz besonderen Filmemacher in Hollywood. Für ihn zählen Figuren und ihre Erlebnisse mehr als eine stringente Handlung, der man von A nach B folgt, obgleich er auch solche Erzählungen kann, wie er in massentauglicheren Produktionen wie School of Rock eindrucksvoll bewiesen hat. Manchmal aber genügt Ihm schon eine wilde Teenieparty in den Sommerferien, Jugendliche, die in Vororten herumhängen oder einfach die episodenhafte Schilderung des schwierigen Erwachsenwerdens, um seine Filme mit mehr Leben zu füllen, als es so mancher Blockbuster vermag. STUDIOCANAL / ARTHAUS hat nun seine bislang zu einer Trilogie herangewachsenen Liebesgeschichte um einen zynischen und doch romantischen Amerikaner und einer liebenswerten Französin in einer Komplettbox veröffentlicht. Heute machen wir eine Reise zurück ins Wien des Jahres 1994, zur ersten, zufälligen Begegnung von Jesse und Celine. Der Beginn einer großen Liebe…oder?
Regie: Richard Linklater
Darsteller: Ethan Hawke, Julie Delpy
Artikel von Christian Jürs
Es ist der 16. Juni 1994, als die junge Französin Celine (Julie Delpy), die gerade ihre Großmutter in Budapest besuchte, auf ihrer Heimreise nach Paris in einem Zugabteil auf den quer durch Europa tourenden Amerikaner Jesse (Ethan Hawke) trifft. Ein in ihrem Abteil sitzendes und sich streitendes, deutsches Ehepaar ist der Anlass für die jungen Leute, sich zunächst über die Zankäpfel lustig zu machen und anschließend miteinander ins Gespräch zu kommen. Die beiden verstehen sich auf Anhieb prima, doch für Jesse ist in Wien Endstation. Dort wird er den Abend verbringen, um am nächsten Morgen mit dem Flieger Richtung Heimat abzureisen. Spontan bittet er Celine, ihre Rückreise zu unterbrechen, um mit ihm gemeinsam den Abend und die Nacht in den Straßen Wiens zu verbringen. Spontan willigt sie ein und so begleiten wir die beiden jungen Leute, wie sie sich beim Schlendern durch die Straßen nicht nur unterhalten, sondern auch langsam näherkommen. Doch mit dem Morgengrauen ist alles wieder vorbei… oder?
Zugegeben, die Handlung von Before Sunrise liest sich dürftig, doch um einen klassischen Spannungsbogen ging es Richard Linklater auch gar nicht. Es ist die zufällige Begegnung, aus der sich die kleine (Liebes-)Geschichte entspinnt, die ihm wichtig war. Basierend übrigens auf einer persönlichen Erfahrung, da Linklater selbst einst eine spontane Nacht in den Straßen von Philadelphia (Anm. des Schreibers: Jetzt habe ich einen Bruce Springsteen Ohrwurm) mit einer Frau namens Amy verbrachte, die er im Anschluss aus den Augen verlor. Ein prägendes Erlebnis, welches Before Sunrise gekonnt transportiert. So gekonnt, dass man als passiver Zuschauer das Gefühl erhält, selbst mitzuschlendern durch die Straßen Wiens, so lebendig wirkt die Szenerie. So entsteht ein kleiner, romantischer Urlaub vom Alltag. Dass dieser so hervorragend funktioniert, ist nicht zuletzt der Verdienst der beiden Hauptdarsteller, deren Chemie einfach bestens funktioniert. Welcher Mann wäre nicht gerne mit Julie Delpy durch die romantischen Gassen von Wien gewandert und welche Frau nicht mit dem sympathischen Ethan Hawke? Auch wenn ihre Begegnung nur wenige Stunden anhält (und für den Zuschauer nur 100 Minuten), hat man immer das Gefühl, dass dieser Abend ihr Leben für immer beeinflussen wird.
Wer sich auf die Magie von Before Sunrise einlassen kann, der wird den Film wohl für immer lieben. Hawke und Delpy jedenfalls haben sich in ihre Figuren definitiv verliebt, da sie, obwohl das Einspielergebnis so gar nicht sensationell war, zusammen mit Linklater zwei Fortsetzungen auf den Weg gebracht haben. Diese spielen jeweils neun Jahre nach dem Vorgänger, wobei jederzeit respektvoll und gekonnt mit der Ausgangssituation des Erstlings umgegangen wird. Natürlich klärt alleine die Existenz der Sequels, dass Jesse und Celine hier nicht für immer Abschied nehmen, doch möchte ich keinen dieser Filme missen. Mich haben Celine und Jesse über die Jahre begleitet, was sicherlich auch daran liegt, dass ich nur wenige Jahre weniger auf dem Buckel habe wie die beiden Hauptfiguren. Für mich gehört der Film zu den schönsten Filmromanzen der Neunziger und ich bin jedes Mal traurig, wenn der Morgen in Wien anbricht und ich mich, wie auch die Charaktere, wieder verabschieden muss.
Technisch ist die Neuveröffentlichung durchaus ansehbar. Bild- (1,85:1) und Tonqualität (Deutsch und Englisch in DD 2.0) sind ausgezeichnet. Im Bonusbereich gibt es allerdings nur den Kinotrailer.
Wer Before Sunrise und dessen Sequels noch nicht kennt und einen Hang zu romantischen Geschichten hat, kann jetzt, dank der günstigen Komplettbox, zugreifen und gemeinsam mit den grandiosen Hauptdarstellern eine Odysee durch die Straßen von Wien, Paris, bis hin nach Griechenland starten.
Zum Schluss noch eine traurige Anekdote: Richard Linklater erhoffte sich, durch die Veröffentlichung von Before Sunrise, dass die aus seinem Blickfeld verschwundene Amy wieder auftauchen würde. Doch auch nach dem Sequel Before Sunset blieb ein Lebenszeichen aus. Erst kurz vor der Produktion von Before Midnight im Jahr 2013 meldete sich ein Bekannter von Amy, der die Geschichte der beiden kannte und teilte Linklater mit, dass sie leider im Jahr 1994 bei einem Motorradunfall ums Leben kam. So konnte sie niemals an dieser romantischen Huldigung ihres gemeinsamen Abends teilhaben. Ich glaube aber, der Film hätte ihr sehr gefallen.