Dass die meisten Eltern ihre Kinder lieben und von sich selbst behaupten, diese am besten zu kennen, dürfte keine allzu gewagte Aussage sein. Aber was passiert eigentlich, wenn die Kleinen das familiäre Refugium verlassen und unbeobachtet von Erziehungsberechtigten agieren? Wie verhalten sie sich? Vielleicht anders als im heimischen Nest? Diese Fragen beantwortet der norwegische Regisseur und Drehbuchautor Eskil Vogt mit seinem von Horror-Anleihen durchzogenen Fantasy-Drama THE INNOCENTS (2021) auf eigenwillige Art und Weise. Capelight Pictures veröffentlicht diesen wirklich empfehlenswerten und originellen Film nach Kinoeinsatz nun auch auf Scheibe. Warum es sich hier um eine mitreißende Seherfahrung handelt, erfahrt ihr in unserer Kritik.

Originaltitel: De uskyldige

Drehbuch & Regie: Eskil Vogt

Darsteller: Rakel Lenora Fløttum, Alva Brynsmo Ramstad, Sam Ashraf, Mina Yasmin Bremseth Asheim, Ellen Dorit Petersen, Morten Svartveit…

Artikel von Christopher Feldmann

Dass Kinder grausam sein können, ist keine neue Erkenntnis. In jungen Jahren entwickeln diese nach und nach ein Bewusstsein für Moral und natürlich auch für Richtig und Falsch. In erster Linie ist es die Aufgabe der Eltern, ihre Sprösslinge für die gesellschaftlichen Normen zu sensibilisieren und das dies nicht immer zwingend glückt, ist definitiv keine Seltenheit. Wer sich einmal mit Kindeswohl und instabilen bis hin zu stark toxischen Familienverhältnissen befasst, wird dies schmerzlich erkennen müssen. Und gerade in einer Lebensphase, in der Kinder noch unbedarft, entdeckungsfreudig und ohne den vollständig eingepegelten moralischen Kompass unterwegs sind, kann es manchmal erschreckend sein, mit anzusehen, wenn sie nicht dem entsprechen, was man zuhause gewohnt ist. Die Idee zu THE INNOCENTS (2021) kam Regisseur und Drehbuchautor Eskil Vogt bei einem ganz alltäglichen Szenario, nämlich als er seine Kids von der Schule abholte und diese sich, ohne Wissen von seiner Anwesenheit, wie ihm völlig fremde Menschen verhielten. Diese Erfahrung arbeitete er in seinem eigenwilligen wie auch umwerfenden Drama auf und erschuf damit einen der besten Filme, die ich dieses Jahr sehen durfte.

Handlung:

In einer norwegischen Hochhaussiedlung entdecken vier Kinder beim Spielen, dass sie besondere Fähigkeiten besitzen: Sie können stumm miteinander kommunizieren und die Welt um sich herum manipulieren. Ein flirrend heißer Sommer voller Möglichkeiten tut sich den Freunden auf. Während die Erwachsenen nicht hinschauen, erproben die Kinder ihre neu gewonnene Macht. Die Zeiten von Vernachlässigung und Bevormundung scheinen für sie endlich vorbei zu sein. Doch als die Freundschaften zu bröckeln beginnen, wird der Wohnblock zum Schauplatz eines gefährlichen Kräftemessens. Was als harmloses Spiel begonnen hat, nimmt schon bald eine schreckliche Wendung.

THE INNOCENTS ist kein „einfacher“ Film. Selbst beim Fantasy Film Fest, wo der Film seine Deutschlandpremiere feierte, sollen einige der anwesenden Zuschauer*innen verstört gewesen sein. Gut, soweit würde ich vielleicht nicht gehen, auch wenn das Fantasy-Drama mitnichten ein harmloses Vergnügen darstellt. Trotz sämtlicher überhöhter Elemente, geht es Vogt darum, die geheime Welt der Kinder zu erkunden, ihr soziales Miteinander zu beleuchten, wenn kein Elternteil in der Nähe ist, das seinem Sprössling bei der auch nur kleinsten Verfehlung auf die Finger klopft. So wird der Spielplatz und das nahe Umfeld der schlichten Hochhaussiedlung zum Schauplatz von Freundschaft und Führsorge aber auch von Kampf, Schmerz und schlussendlich sogar Tod. Für dieses packende Seherlebnis hat der Filmemacher sich einen ganz besonderen Kniff ausgedacht, nämlich indem er seinen Protagonisten übernatürliche Fähigkeiten verpasst. Während die kleine Ida „normal“ erscheint, auf der anderen Seite aber unter dem Umzug leidet und dies kompensiert, indem sie ihrer schwer autistischen Schwester Anna Schmerzen zufügt und ihr beispielsweise Glasscherben in die Schuhe legt, scheinen ihre neu gefundenen Freunde Aisha und Ben mehr zu bieten zu haben. Aisha hat telepathische Fähigkeiten und schafft es, eine übersinnliche Verbindung zu Anna herzustellen und mit dem Mädchen, dass aufgrund ihrer Krankheit das Sprechen verlernt hat, zu kommunizieren. Ben hingegen ist der Telekinese mächtig und in der Lage, Dinge zu bewegen, nutzt dies aber in erster Linie aus, um seinen Frust auszuleben, leidet er doch stark unter ständigen Umzügen und unter der fehlenden Aufmerksamkeit seiner Mutter.

Aus diesem Quartett entspinnt sich langsam aber sicher eine ganz eigene Dynamik. Freundschaften werden geschlossen, emotionale Beziehungen werden geknüpft aber diese bröckeln auch mit der Zeit wieder, ein ganz normaler Prozess, der zum Leben dazugehört. Nur sind eben die Kinder in diesem Film noch unbedarft, quasi jenseits von Gut und Böse und in Verbindung mit der übernatürlichen Komponente führt dies bald zu einem Kampf auf Leben und Tod. Gerade die vordergründige Erzählung weiß Vogt spannend zu gestalten und man folgt mit staunendem Auge den noch jungen Hauptfiguren, die sich in einer besonders intensiven Szene an einer wehrlosen Katze vergehen. Dies tun sie nicht aus Bosheit, sondern viel mehr aus Neugier, sie sind eben, wie der Titel so schön sagt, unschuldig. Dass dies bald grausame Züge annimmt, basiert natürlich auf den cleveren Beobachtungen, die Vogt hier verarbeitet, sorgen die jeweiligen Familienverhältnisse doch stark für das soziale Miteinander. Die Fantasy-Komponente gibt dem Ganzen eben nur noch andere Ebene.

Was Vogt aber besonders gut umsetzt, ist die Tatsache, dass er nicht auf die Kinder herabblickt. Man hat stets das Gefühl, dass man mit ihnen auf Augenhöhe agiert und sie auch ernst nehmen kann. Jeder der vier bekommt seine Geschichte und zumindest für Ida entwickelt sich daraus ein moralisches Leerstück. Es ist ebenso beeindruckend wie sehr der Film auf der emotionalen Klaviatur spielt, auf berührende, wirklich liebevolle und herzerwärmende Momente folgen spannungsgeladene Szenen mit kleinen Härten, bei denen man schon durchaus mal die Luft anhält. All das mündet in einem großartigen Finale auf dem Spielplatz, das an einen Stand-Off aus einem Superhelden-Blockbuster erinnert, nur eben sehr viel kleiner und intimer aber auch wesentlich wirkungsvoller, als es irgendjemand im gegenwärtigen Big-Budget-Kino zu inszenieren vermag.

Inszenatorisch sollte man sich hingegen aber auf einen echten Slow-Burner einstellen. THE INNOCENTS ist kein Film der großen Effekte und des Spektakels. Wie auch die Geschichte bleibt der schwelgerisch aber auch betont ungemütlich gefilmte Streifen stets intim und dicht, geradezu unaufgeregt. Ein großes Plus, das die Spannung nur weiter steigert und den Zuschauer bis zum Ende mit fiebern lässt, bevor es zum finalen Kräftemessen im Sandkasten kommt. Auch die Kinderdarsteller sind durch die Bank hervorragend, allen voran Rakel Lenora Fløttum als Ida, die so nuanciert spielt wie ich es bei kaum einem anderen Filmkind in den vergangenen Jahren gesehen habe. Alva Brynsmo Ramstad, Sam Ashraf und Mina Yasmin Bremseth Asheim machen einen ebenso großartigen Job. Gerade Sam Ashraf hinterlässt einen bleibenden Eindruck. Das Ganze wird durch einen minimalistischen, sehr stimmungsvollen Score unterstützt, der fast schon das Sahnehäubchen darstellt.

Capelight Pictures spendiert dem Film neben einer Blu-ray- und DVD-Ausgabe im Keep-Case auch eine Mediabook-Edition, die uns zur Sichtung vorlag. Bild- und Tonqualität sind gewohnt sehr gut, neben dem Kinotrailer beinhaltet die Disc noch einen Audiokommentar. Ein 24-seitiges Booklet gibt es beim Mediabook obendrauf.

Fazit:

THE INNOCENTS (2021) ist ein kleiner Genrefilm, der am Mainstreampublikum vermutlich sang- und klanglos vorbeigehen wird und trotzdem sei jedem, der gerne mal über den Tellerrand blickt, dieser großartige Blick in die Sandkastenwelt der Kinder ans Herz gelegt. Originell, spannend, einfühlsam und großartig beobachtet. Absolute Sehempfehlung!

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