Derzeit ist mit KILLERS OF THE FLOWER MOON (2023) der neueste Geniestreich von Regielegende Martin Scorsese in den Kinos zu sehen. Der mittlerweile 80-jährige Filmemacher kann mittlerweile auf eine beeindruckende Filmographie zurückblicken, die nicht unbedingt arm an Meisterwerken ist und doch fristet der ein oder andere Film des Italoamerikaners ein Nischendasein. Gut, dass es Labels wie Plaion Pictures gibt, die jenen Werken eine breite Bühne bieten. Zu diesen gehört mit Sicherheit auch DIE ZEIT NACH MITTERNACHT (1985), der bei seiner Veröffentlichung zwar mit guten Kritiken geadelt aber vom Publikum weitestgehend ignoriert wurde. Nun wurde die schwarzhumorige Odysee als deutschsprachige HD-Premiere veröffentlicht und wir verraten euch, ob es der Film mit den großen Referenzprojekten Scorseses aufnehmen kann.

Originaltitel: After Hours

Drehbuch: Joseph Minion

Regie: Martin Scorsese

Darsteller: Griffin Dunne, Rosanna Arquette, Linda Florentino, John Heard, Teri Garr, Catherine O’Hara, Cheech Marin, Thomas Chong, Verna Bloom…

Artikel von Christopher Feldmann

Martin Scorsese gilt unbestritten als Meister seines Fachs, als Legende des New-Hollywood-Kinos, die auch heute die größten Stars und die üppigsten Budgets zusammenbekommt, um seine Wunschprojekte umzusehen. Dies lässt sich allein an seinem neuesten Film KILLERS OF THE FLOWER MOON (2023) erkennen, einem über dreistündigen, historischen Thrillerdrama, das mit einem Budget von rund 200 Millionen US-Dollar umgesetzt wurde. Zwar zeigen sich die Studios mittlerweile etwas zögerlich, solche Projekte zu finanzieren, Streamingdienste wie Netflix (die Scorseses überlangen Mafiaabgesang THE IRISHMAN (2019) finanzierten) und Apple TV (die einen entscheidenden Betrag zu seinem Film über die Osage-Morde beisteuern) schmücken sich allerdings nur zu gerne mit solchen prestigeträchtigen Produktionen.

Allerdings sah es bei Scorsese nicht immer rosig aus, besonders in den 1980er Jahren hatte der Filmemacher Probleme, seine Ideen umzusetzen. Nach seinem Klassiker TAXI DRIVER (1976) ging das Musical NEW YORK, NEW YORK (1977) ebenso gnadenlos baden wie die bissige Showbusiness-Satire THE KING OF COMEDY (1982). Trotz seines gefeierten Boxerdramas WIE EIN WILDER STIER (1980) galt Scorsese zu jener Zeit als Kassengift und Paramount Pictures cancelte noch in der Vorproduktion das Bibel-Epos DIE LETZE VERSUCHUNG CHRISTI, welches er schließlich erst 1988 mit Universal Pictures umsetzen konnte. In dieser Phase entstand auch DIE ZEIT NACH MITTERNACHT (1985), mit dem Scorsese beweisen wollte, dass er durchaus noch in der Lage ist, kleine Filme für wenig Geld zu drehen. Dieses Vorhaben ist ihm gelungen, auch wenn die schwarzhumorige Komödie am Box-Office wenig Beachtung fand, ihm jedoch den Regiepreis in Cannes einbrachte. Tatsächlich fristet der im Original als AFTER HOURS betitelte Film eher ein Schattendasein in Scorseses Vita, ist nichts desto trotz ein kleines Meisterwerk, das auch heute noch glänzend zu unterhalten vermag.

Handlung:

Der gelangweilte Programmierer Paul Hackett (Griffin Dunne) lernt in einem New Yorker Café die bezaubernde Marcy (Rosanna Arquette) kennen. Als sie ihm ihre Adresse hinterlässt, rechnet er nicht damit, dass ihm dieses Rendezvous die verrückteste Nacht seines Lebens bescheren wird – denn in der Zeit nach Mitternacht gelten andere Regeln – und schon während der Fahrt zu Marcy beginnt eine irrwitzige Odyssee…

In Sachen Handlung ist AFTER HOURS nicht sonderlich komplex. Ein Mann streift durch die Nacht und stolpert dabei von einer prekären Situation in die Nächste, wobei ein eigentlich harmloses Rendezvous der Auslöser ist. Tatsächlich bietet das Drehbuch von Joseph Minion aber weitaus mehr als eine halsbrecherische und ereignisreiche Odyssee durch das nächtliche New York. Oberflächlich funktioniert das Ganze natürlich wunderbar als Komödie, immerhin spielt der Autor ebenso mit Screwball-Elementen wie auch mit klassischer Situationskomik und mutet seinem Protagonisten obskure Begegnungen zu, die für ihn meist unangenehme Folgen haben. Da wäre allein das quasi per Telefon arrangierte Date mit der reizenden „Marcy“, das sich zu einem fast schon beklemmenden Gespräch entwickelt und auf einer doch eher unangenehmen Note endet. Oder auch die Tatsache, dass „Paul“ durch diverse Situationen für einen derzeit sein Unwesen treibenden Einbrecher gehalten wird und schlussendlich von einem wütenden Mob durch die Straßen gejagt wird, bis er schließlich in einem Nachtclub für BDSM-Liebhaber landet. All diese kleinen Episoden sorgen für diverse komische Momente aber auch für ein gewisses Unbehagen und auch teilweise für eine Portion Tragik.

Immerhin geht es auch immer um Einzelschicksale einsamer Menschen, zu denen u.a. der Barkeeper „Tom“, die Lebenskünstlerin „Julie“ oder auch ein homosexueller Mann gehören, bei dem „Paul“ irgendwann strandet. Bei sämtlichen Figuren handelt es sich um Outsider, was zur Folge hat, dass AFTER HOURS neben all der grotesken Komik auch bittersüße Momente liefert, die den Film stellenweise zum Drama machen. Gerade in einer Szene, in der Barkeeper „Tom“ eine verhängnisvolle Nachricht erhält, bleibt dem Zuschauer das Lachen im Halse stecken. Man freut sich erst diebisch, weil man sich darüber bewusst wird, dass „Paul“ nun in der Klemme steckt, tatsächlich schlägt dies schnell Mitleid für „Tom“ um, der authentisch trauert. All das verpackt Scorsese als eine Art traumhafte Nummernrevue, denn man wird das Gefühl nicht los, den Protagonisten durch einen Alptraum zu begleiten, aus dem es kein entkommen gibt. Der Film spielt oft mit Traumlogik, lässt hanebüchene Dinge geschehen und auch Figuren handeln immer wieder irrational. Die gesamte Geschichte durchzieht eine surreale Stimmung, was von dem skurrilen Figurenensemble befeuert wird. Man kennt dieses Gefühl von eigenen Träumen, in denen sich Situationen plötzlich ändern, Personen immer wieder auftauchen und verschwinden, das Erlebte sich um 180 Grad dreht und man selbst gefühlt machtlos ist, dem entgegenzuwirken. Und auch wie im realen Leben setzt AFTER HOURS einen brillanten Schlusspunkt, denn am Ende ist wieder Alles so wie es vorher war, man ist quasi wieder „wach“.

Zu diesem Effekt trägt entscheidend die hervorragende Kameraarbeit von Michael Ballhaus bei, der hier zum ersten Mal mit Scorsese zusammenarbeitete. Beide kollaborierten mehrfach miteinander, legendär ist zum Beispiel die schnittfreie Kamerafahrt in GOODFELLAS (1990). Ballhaus schafft es kongenial das Unwirkliche zu transportieren und dem Film die Wirkung eines Traums zu verleihen. In der Symbiose mit Scorseses Stammcutterin Thelma Shoonmaker gewinnt AFTER HOURS einen perfekten Flow und kann somit schon rein technisch mit den großen Werken des Regisseurs mithalten. Und das obwohl der Film mit rund 97 Minuten sehr viel kürzer geraten ist, als die meisten seiner Arbeiten. Das tut gut und sorgt dafür, dass keine Längen entstehen.

Auch wenn die Besetzung keine Stars wie Robert De Niro, der mittlerweile zehn Mal für Scorsese vor der Kamera stand, aufbietet, tummeln sich einige bekannte Gesichter in dem wilden Geschehen. Hauptdarsteller Griffin Dunne, der eine tragende Rolle in AN AMERICAN WEREWOLF IN LONDON (1981) inne hatte, ist dabei noch das für die breite Masse unbekannteste Gesicht. Neben ihm treten Rosanna Arquette (PULP FICTION), 1980er-Jahre-Schönheit Linda Fiorentino, die oscarnominierte Teri Garr, sowie wie Will Patton als „Horst“ die Ehre. Zusätzlich sehen wir noch John Heard und Catherine O’Hara, die später ihren Filmsohn „Kevin“ in HOME ALONE (1990) vergessen sollten, Schauspielveteran Dick Miller und das Comedy-Duo Cheech & Chong als Einbrecher.

Plaion Pictures veröffentlichte den Film kürzlich und passend zum Kinostart des neuesten Scorsese-Films als Limited Digipack Edition, die sowohl Blu-ray als auch DVD beinhaltet. Bild- und Tonqualität sind sehr gut, wobei der Ton „nur“ in Dolby Digital 2.0 vorliegt. Als Extras gibt einen Audiokommentar mit u.a. Scorsese, Hauptdarsteller Dunne und Michael Ballhaus, neue Interviews mit Scorsese und den Porduktions- und Kostümdesignern, ein Making-Of, Deleted Scenes, eine Bildergalerie und den Trailer. Obendrauf ist auch noch ein Booklet in der Edition enthalten.

Fazit:

DIE ZEIT NACH MITTERNACHT (1985) mag vielleicht nicht in einer Liga mit TAXI DRIVER (1976), GOODFELLAS (1990), CASINO (1995) oder auch KILLERS OF THE FLOWER MOON (2023) spielen, ist aber eine unterhaltsame und ungeheuer interessante Regiearbeit von Martin Scorsese, die skurrile Komödie und Drama miteinander vereint und dies als surreale Odyssee durch das nächtliche New York verpackt. Definitiv eine Sichtung wert.

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